Mit leicht verdaulichen Nudeln und schwer verdaulicher Geschichte im Bauch verließen wir Danzig (bzw. Gdańsk) wieder. Der nächste Fixpunkt auf unserer Tour sollte Pieniezno (ehemals Mehlsack) sein, wo Jared und ich Hinweise auf unsere Vorfahren suchen wollten. Bis dahin waren es ca 150 Kilometer, und wir wollten dementsprechend bis zum Abend des nächsten Tages ca 140 Kilometer zurücklegen, um dann vor Pieniezno zu übernachten. Da es bereits später Nachmittag war, machten wir keine längere Pause mehr und versuchten so möglichst viele Kilometer hinter uns zu bringen.
Vincent schien sich dabei ungewohnt schwer zu tun - vermutlich hatte ihm die durchgelegene Hostel-Matratze nicht bekommen!? Die Straße führte uns entlang des Flusses Martwa Wisla, an dessen Ende wir die Weichsel per Fähre überquerten.
Auf der anderen Seite bot sich uns ein spannendes Naturschauspiel. Wir konnten beobachten, wie sich in den einige Kilometer entfernten Gewitterwolken zwei Wirbel bildeten und langsam aber sicher Richtung Boden wuchsen. Die Wirbel wurden so zu ausgewachsenen Wasserhosen, die ein paar Minuten umeinander tänzelten, bevor sich beide langsam auflösten. Leider waren wir zu fasziniert, um rechtzeitig die Kamera zu zücken und konnten die Tornados nicht in voller Pracht aufnehmen.
Nach etwa 40 gefahrenen Kilometern - Vincent hing nur noch angestrengt im Windschatten - erspähte Jared einen möglichen Schlafplatz. Am Rande eines kleinen Flusses, von Gebüsch wenigstens halbwegs bedeckt, war ein etwa zehn Meter langer und drei Meter breiter, schwimmender Steg. Unsere Schnellprognose stimmte uns optimistisch, hier unser Zelt irgendwie drauf zu bekommen. Unter normalen Umständen hätte ich dafür plädiert weiterzufahren. Zeitgleich untersuchte allerdings Vincent sein Hinterrad, um festzustellen, ob sich wieder Speichen gelöst hatten. Tatsächlich wackelten einige Speichen nur noch lose herum. Allerdings nicht weil sie sich aus der Felge gelöst hatten, sondern weil sich die Felge AUFgelöst hatte. Bei acht Speichen hatte sich das Gewinde mitsamt einem Stück Felge herausgerissen. Dementsprechend hatte sich das Rad in ein ungefähr rundes Vieleck verwandelt. Eine Weiterfahrt war also erstmal ausgeschlossen und so arrangierten wir uns mit dem Steg. Immerhin war wohl mit Vincents Fitness noch alles in Ordnung... Nachdem wir gekocht hatten, wurde das Zelt auf dem Steg aufgebaut. Mit guten zehn Zentimetern Platz zwischen Zeltwand und Wasser auf beiden Seiten war das ganze kein Problem! Zumindest für mich, da ich ja in der Mitte schlafe.
Am nächsten Morgen hatte ich gerade Frühstück und Kaffee gekocht - Jared hatte sich schon zu mir gesellt, während Vincent noch von einer neuen Felge träumte - da kam eine Gruppe von drei Männern auf unseren Steg. Sie witzelten untereinander und hatten insgesamt eine geschäftige aber hervorragende Stimmung an den Tag gelegt. Bewaffnet mit Motorsensen und Laubgebläsen begannen sie sofort wild auf uns einzureden. Zwar war der Tonfall entspannt und fröhlich, aber wir begannen trotzdem etwas hektisch unser Zeug aus dem Weg zu räumen. Auch Vincent war plötzlich in der Vertikalen und verstaute bereits die Schlafsäcke. Die Männer winkten nur ab, bedeuteten uns sitzen zu bleiben und (so die Vermutung) wünschten uns einen guten Appetit.
Nachdem wir schließlich zusammengepackt hatten, machten wir uns auf den Weg. Natürlich musste Vincents Hintervieleck möglichst entlastet werden und so übernahm Jared die großen Packsäcke und den Wasserbeutel und ich Vincents beide Hintertaschen und die Gitarre.
Dank Entlastung rollte alles einigermaßen und wir erreichten recht schnell das etwa 30 km entfernte Elblag. Dort suchten wir einige Zeit nach dem angestrebten Fahrradladen. Da sich die Suche durch ein spannendes Backstein-Industriegebiet zog, wo es so ziemlich jedes Handwerk zu finden gab, hatten wir aber auch daran unsere Freude. Als wir die Radwerkstatt schließlich fanden, waren wir direkt guter Dinge. An der Wand hingen einige dutzend Laufräder und so fand sich auch schnell ein passendes für Vincents Drahtesel. Die beiden Mechaniker, beide etwa in unserem Alter, waren super hilfsbereit und kompetent. Einzig die Frau an der Kasse, möglicherweise die Geschäftsführerin, war nicht so begeistert, wenn wir ständig ihre Mechaniker beanspruchten.
Kurz nach uns traf eine junge deutsche Familie ein. Die Eltern waren mit ihren drei Söhnen (5, 3 und 1) einen Monat in Polen unterwegs. Dabei legte der älteste die gesamte Stecke selbst zurück, während seine kleineren Brüder mit Follow-Me bzw. Kindersitz vom Vater bewegt wurden. Wir waren wirklich beeindruckt wie entspannt und gelassen die Bedürfnisse der drei Kinder während der Fahrradreparatur bedient wurden. Ob wir wohl so entspannt wären, die Tour mit drei kleinen Kindern durchzuziehen? Die Räder der Eltern repräsentierten die Crème de la Crème der Fahrradschaltungen: Sie war mit einer Rohloff Nabenschaltung und er mit einer Pinion Getriebeschaltung unterwegs. Letztere ist optisch leicht mit dem Motor eines E-Bikes zu verwechseln, da sie direkt im Tretlager, also zwischen den Pedalen, angebracht ist und in Form einer kleinen Box im Rahmen steckt. Mit einem Preis von 1500 Euro allein für die Schaltung findet man die Pinion P1.18 auch nur in High-End Rädern.
Dementsprechend irritiert waren wir über die teils fehlende Fachkenntnis der beiden, die an der einen oder anderen Stelle auffiel. Während Vincent sein neues Hinterrad zusammengeschraubt bekam, wollte ich noch schnell (!!) meine Kette wechseln, da die alte bereits ordentlich steif war. Aufgrund von Verständigungsproblemen, wurde mir erst eine komplett falsche Kette verkauft, die dementsprechend hin und her wackelte und bei jeder Pedalumdrehung durchrutschte. Etwas genervt suchte ich mir dann die Kette selbst aus und montierte sie fröhlich mit meinem Kettennieter. Guter Dinge setzte ich mich für eine Proberunde auf den Sattel und RATSCH rutschte auch die neue Kette durch. Bereits etwas verzweifelt versicherte ich mich dreifach, ob es sich diesmal auch wirklich um die richtige Kette handelte. Der nächste Anhaltspunkt war die Kettenspannung, also wurden nochmal ein paar Kettenglieder entfernt, um die Feder des Kettenspanners stärker unter Zug zu setzen. Auch das brachte keine wesentliche Verbesserung und somit wuchs meine Frustration weiter an. Auch die Mittagssonne, welche auf unsere Köpfe knallte trug nicht gerade zur Entspannung bei. Vincent war in der Zwischenzeit einkaufen gegangen und er und Jared hatten bereits gegessen. Unsere Radlerkollegen hatten alle Reparaturen erledigt und die drei Jungs wurden längst ungeduldig. Nachdem die Ölschicht auf meinen Händen vom vielen rumwerkeln deckend war, beschloss ich doch noch einmal einen der beiden Mechaniker um Rat zu fragen. Der identifizierte das Problem schnell: einige Kettenglieder der neuen Kette waren steif. Leider stellte sich die Behebung des Problems als deutlich komplizierter heraus als die Diagnose. Gemeinsam werkelten er und ich eine weitere halbe Stunde und drei Kettenschlösser lang an der Kette herum. Die junge Familie war mittlerweile weitergezogen und Jared und Vincent hatten Reparaturzeug für die Solarplatte in einem nahegelegenen Baumarkt besorgt. Nach locker zwei Stunden lief die Kette wieder flüssig und mein Rad rollte wie neu. Vielleicht war es mit meiner eigenen Fachkenntnis auch nicht so weit her, wie ich mir eingebildet hatte...
Während unserer Reparaturgespräche empfahlen uns die beiden jungen Eltern den „Green Velo“, welcher ziemlich genau zu unserer Streckenplanung passte und außerdem eine tolle Infrastruktur mit sich bringe.
Gesagt, getan! Wir folgten den netten Schildern mit bunten Kettengliedern in Richtung Pieniezno. Tatsächlich waren etwa alle 15 Kilometer klasse Rastplätze mit Bänken und Tischen unter schönen Holzdächern gemeinsam mit Mülleimern und jeweils einer Toilette vorhanden. Die Ausschilderung war auch sehr gut und der Weg so gewählt, dass von Autos befahrene Straßen möglichst gemieden wurden. Für eine Familie war das perfekt, aber für uns waren Streckenführung und Belag an diesem Tag zu langsam, da wir bis Abend nahe an Pieniezno sein wollten.
Dementsprechend fuhren wir viel auf der Landstraße und schafften trotz langer Wartungspause gute 90 Kilometer. Für die nächsten Tage nahmen wir uns vor, dem ausgeschilderten Weg mehr zu folgen. Nach unserem Abendessen an einer Bushaltestelle, rollten wir an einen See, wo wir einen minimalistischen, sehr natürlichen Campingplatz fanden. Beim Betreten desselben kam uns direkt ein großer, bulliger Hund entgegen, der wild bellte und die Zähne fletschte. Glücklicherweise kam uns schnell sein Herrchen, der Platzwart, zur Hilfe und rettete uns aus der Situation. Für die Nacht mit dem Zelt verlangte er einen lächerlich geringen Betrag und erklärte uns sogar noch, welches Holz wir für ein Lagerfeuer nutzen konnten. Wir ließen den Abend also mit Schwimmen und Gitarre spielen am Lagerfeuer ausklingen und gingen anschließend vom Glück beseelt ins Zelt.