Großfamilie neu definiert
von Vincent Kliem
am 05.08.2021
Start
Kiisa
🇪🇪 Estland
Ziel
Kirkkonumi
🇫🇮 Finnland
Strecke
75
km

Nach dem Aufstehen nutzten wir den schönen Fluss an unserem kleinen Zeltplatz, um (mal wieder) unsere Fahrräder zu säubern. Zufrieden, die Lärmbelästigung durch unsere knirschenden Fahrradketten etwas eingedämmt zu haben, fuhren wir nach Tallinn, um nachmittags mit der Fähre nach Helsinki überzusetzen. Da wir morgens etwas trödelten, blieb uns in Tallinn selbst nicht mehr so viel Zeit. Die wenige Zeit nutzten wir, um einen Kaffee im Telliskivi zu trinken. Hier haben sich auf einem ehemaligen Fabrikgelände Kreative, Cafés und Bars angesiedelt. Es schien unglaublich viel zu entdecken zu geben. Wir ärgerten uns etwas, dass wir nicht früher hier waren und beschlossen, dass wir auf jeden Fall nochmal nach Tallinn kommen müssen.

Unsere kleine Ferienwohnung

Eilig machten wir uns auf den Weg zur Fähre und bewunderten aus der Ferne noch die Häuser der Altstadt. Wir waren tatsächlich die drei letzten Radreisenden, die die Fähre bestiegen. Wir parkten unsere Räder im Bug des Schiffes, packten das Nötigste zusammen und gingen auf Erkundungstour. Unsere Fähre war ein ganz schönes Monstrum. Wir machten es uns zunächst auf dem Deck gemütlich und brachten unseren Blog etwas auf Vordermann. Um noch ein wenig unsere hungrigen Akkus zu Laden, gingen wir wieder unter Deck in die Cafeteria. Zu diesem Zeitpunkt war unser Plan, den Abend in Helsinki zu verbringen und noch eine Nacht am Rand von Helsinki zu verbringen, um am nächsten Morgen auf Erkundungstour zu gehen. Dieser Plan sollte sich radikal ändern.

Ich war gerade dabei am Blog zu schreiben, als ich plötzlich auf deutsch Angesprochen wurde: „Ihr seid aus Deutschland, oder?“. Vor uns stand ein älteres Ehepaar, dass sich als Heidi und Willy Larsen vorstellte. Im Gespräch wurde uns schnell klar mit was für beeindruckenden Persönlichkeiten wir es zu tun hatten. Kurz zusammengefasst: Heidi und Willy (beide Mitte 70) waren mit ihrem Wohnmobil auf der Rückreise von einem Besuch bei ihrer Tochter in Estland, die sie besucht hatten, um beim Hausbau zu helfen. Dies sei möglich, weil sie gerade Urlaub(!) hätten. Ursprünglich stammten beide aus Norwegen. Heidi sogar von den Lofoten. Willy war als junger Soldat einige Jahr in Deutschland stationiert. Die beiden sprachen: deutsch, englisch, norwegisch, schwedisch, finnisch und ein bisschen russisch. Wir unterhielten uns mit einem Gemisch aus deutsch und englisch. Besonders rührend und unterhaltend war, wie Willy gestenreich erzählte, wie er Heidi kennenlernte. Die ganze Begegnung war so unglaublich herzlich. Schließlich luden sie uns ein, sie zu besuchen. Sie wohnen 35km von Helsinki entfernt. Wir beschlossen gleich heute noch die Strecke zu fahren. Ach ja, war zu diesem Punkt die Lebensleistung und Ausstrahlung der beiden nicht schon beeindruckend genug, setzten sie noch einen drauf: Als sie uns in ihr Haus einluden erwähnten sie nebenbei, dass sie wirklich viel Platz hätten, da sie nämlich 15 (in Worten fünfzehn) Kinder hätten!!!

Wir verabschiedeten uns bis später und fuhren zügig los. Da es inzwischen schon fast 20 Uhr war, beeilten wir uns, nicht zu spät zu kommen. So konnten wir leider nicht so viel von Helsinki sehen. An einen ruhigen Abend in Helsinki war heute sowieso nicht zu denken, denn über der Stadt kreisten in einer abenteuerlichen Flugshow und kaum überhörbar Kampfjets. Wie viele Passanten schauten auch wir immer wieder nach oben und staunten über Flugmanöver und Farbmalerei am Himmel. Ein kleines Wunder, dass wir nicht in einen Verkehrsunfall verwickelt wurden, denn alle starrten nach oben. Etwas außerhalb von Helsinki wurde es schließlich ruhiger und wir konnten auf den nicht besonders schönen aber fantastisch funktionalen Radwegen entlang der Schnellstraßen zügig Strecke machen. Finnland scheint ein super ausgeschildertes und ausgebautes Radnetz zu haben. Wir kamen schließlich gegen 22 Uhr an der Adresse, die uns die Larsens gegeben hatten an.

Wir standen tatsächlich in Mitten eines großen Grundstücks - zur Hälfte Baustelle - vor einem großen Haus. Wir sahen zunächst durch die Fensterscheiben Björn, ein Sohn von Willy und Heidi, der momentan in einer Wohnung des Hauses wohnt. Wir wurden herzlichst begrüßt und wir brachten unser Gepäck ins obere Stockwerk. Das Haus war auch von Innen beeindruckend. Es bestand aus mehreren, wenn auch nicht klar abgegrenzten, Wohnungen mit jeweils eigenen Küchen. Wir bezogen unsere Traumferienwohnung unter dem Dach und gingen nach einer Dusche und schneller Pasta überwältigt schlafen.

Frühstück bei Familie Larsen

Am Morgen wurden wir von Larsens zum Frühstück eingeladen. Der Tisch war gedeckt mit feinem Fisch, selbst gebackenem Brot und vielen Zutaten aus dem Garten. Willy und Heidi erzählten uns viel über ihre Familie und wie sie hier nach Kirkkonummi kamen und über das Leben in einer gigantischen Großfamilie mit 15 Kindern: „ein großes Geschenk“. Sie strahlten eine unglaubliche Dankbarkeit und Lebensfreude aus. Das Highlight war aber die anschließende Führung durch das Haus. Zunächst ging es runter in die Werkstadt. Der passionierte Schreiner Jared war sofort begeistert von der Auswahl an Werkzeugen und den gebauten Möbelstücken. Neben einer ausgestatteten Schreinerei diente der Raum aber auch als Autowerkstatt, erkennbar an einer große Luke im Boden. Es ging nämlich noch ein Stockwerk runter. Hier gab es zwei weitere Werkstätten. Eine lag genau unter der oberen Werkstatt und so konnte man von hier durch die Decke gemütlich am Auto schrauben. In der anderen Werkstatt wartete noch ein Highlight auf uns. Willy ist sehr handwerklich veranlagt, was man bei so einem Haushalt vielleicht auch sein sollte, und hat dies auch an einige seiner Kinder weitergegeben. Ein Sohn arbeitete in dieser Werkstatt schon seit Jahren an einem eigenen Kanu. Das Zwischenergebnis sah schon super cool aus. Hinter einer weiteren Tür befand sich auf einmal ein gigantischer Findling über den das Haus einfach gebaut wurde. Hier unten gab es auch einen direkten Zugang zum Grundwasser.

Wir gingen wieder ein Stockwerk hoch, besichtigten die Sauna (wir hatten schon gewettet, dass es bestimmt eine gibt), wurden um die Ecke geführt und standen auf einmal in einer Kirche, einer KIRCHE! Larsens hatten es schon durchblicken lassen, dass sie sehr christlich verwurzelt sind, aber mit einer Kirche haben wir nicht gerechnet. In der Kirche befand sich neben einer Hausorgel auch ein Klavier. Zwei Dinge, die den Larsens wichtig zu sein schienen:

Zum einen das gemeinsame Musizieren. Schon im Wohnzimmer hingen Instrumente für ein Orchester an den Wänden und jedes Kind sollte mindestens ein Instrument lernen.

Bei der Planung des Hauses und der Kirche war Willy aber auch wichtig, dass man auch entspannt aus der Sauna der Musik oder den Gottesdiensten folgen kann. So gibt es ein Fenster direkt von der Sauna mit Blick in die Kirche. Wo gibt‘s denn schon sowas?

Ich fragte gleich, ob wir nicht gemeinsam was singen könnten. Nach kurzem Überlegen fanden wir Amazing Grace und voller Inbrunst wurden alle 7 Strophen mehrstimmig gesungen. Es war total rührend.

Anschließend setzte sich Heidi an’s Klavier und die Larsens sangen für uns mehrstimmig ein schwedisches Lied. Unglaubliche schön. Wir nahmen uns gleich vor, das bei Gelegenheit mal zu üben.

Weiter ging es in den Garten. Das Grundstück grenzte direkt an einen kleinen Fluss. Dort wird gerade eine Fischtreppe gebaut. Es gab auch ein kleines Becken in dem Willy jeden morgen (egal ob Winter oder Sommer) baden geht. Im Garten standen auch mehrere Wohnwägen mit ausgebauter Holzterrasse, die teilweise den Kindern gehören. Auf dem Grundstück steht auch noch das alte Haus, das hier schon stand, als die Larsens das Grundstück kauften. Hier wurden die ersten Kinder großgezogen, während mit der (eigenständigen) Planung und dem Bau des Hauses begonnen wurde.

Ach, es gäbe noch so viel zu erzählen über diese unglaubliche Familie und diese besondere Begegnung. Was für ein verrückter Zufall, das uns dieser urige Typ auf der Fähre einfach ansprach und unfassbar was dann folgte.

Wir verabschiedeten uns herzlich „bis bald“ und mit dem Gefühl, dass wir uns schon viel länger als die paar Stunden kennen würden, und stiegen auf unsere Fahrräder. Wir konnten noch nicht ganz fassen, was da seit der Fähre so passiert ist und werden sicherlich noch ein paar Tage brauchen um diese unglaubliche Begegnung zu verarbeiten.

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