Mückeninferno
von Moritz Spannenkrebs
am 15.07.2021
Start
Kolobrzeg
🇵🇱 Polen
Ziel
Kopan
🇵🇱 Polen
Strecke
81,98
km

An diesem Tag erwachten wir alle recht zeitig, da uns der Strand wenig Schutz vor der Morgensonne bot. Natürlich nutzten wir alle das Meer vor unserer Zelttür für eine morgendliche Erfrischung. Gerade wenn man den ganzen Tag schwitzend auf dem Rad sitzt, tut es gut, sich morgens noch ein paar Stunden wie ein Mensch zu fühlen. Kaum dass wir unsere Sachen einigermaßen gepackt hatte, kam eine Gruppe von drei Männern den Strand im Traktor entlanggefahren. Wir hatten noch kurz Bedenken, ob da wohl Ärger auf uns zurollen könnte, aber sahen dann schnell, dass die Männer für das Leeren der Mülleimer zuständig waren. Also begrüßten wir die drei freundlich in unserem flüssigen Polnisch (Wortschatzgröße: 3) und machten uns auf den Weg. Da es noch relativ früh war, hatten wir angenehme Temperaturen und der Wind half uns ein wenig auf einem sehr schönen, schattigen Weg entlang der Ostsee. Mit einem kurzen Stop für Wasser und ein paar Runden Skat erreichten wir vor Einsetzen der Mittagshitze einen sehr schönen Pausenplatz und hatten bereits über 40 Kilometer geschafft ohne uns wirklich anzustrengen. Die Mittagspause wurde genutzt, um den Blog und die Räder auf Vordermann zu bringen und die eine oder andere Tasse Kaffee zu trinken. Nach einer mehr als ausgiebigen Pause ging es nachmittags weiter. Für mich war es immernoch schwer erträglich heiß, aber der Gegenwind brachte Abkühlung und Ablenkung, da er ein akuteres Problem darstellte als die Temperaturen.

Morgendlicher Betrieb am Strand

Ein besonderes Highlight des Tages war der Trip von Vincent und mir zum Supermarkt. Aus Gewohnheit waren wir davon ausgegangen, die Wasserkanister direkt am Eingang zu finden. Da sie dort nicht anzutreffen waren, irrten wir orientierungslos im Laden herum. Nachdem wir fünfmal im Kreis gelaufen waren, entdeckten wir mehr oder weniger gleichzeitig ein großes Schild mit der Aufschrift „Woda“, welches uns in einen Nebenraum führte. Bei genauerem Umsehen wurde uns klar, dass alle Wände, Decken und soar der Fußboden mit derartigen Schildern bestückt waren. Im Nachhinein war uns absolut unbegreiflich, wie man in diesem Laden irgendetwas anderes als die „Woda“-Schilder wahrnehmen konnte. In diesem Moment machten wir uns dann doch den einen oder anderen Gedanke darüber, was das tägliche Radfahren mit unserer Zurechnungsfähigkeit anstellte…

Zum Abend hin fuhren wir einige Kilometer entlang einer dünnen Landzunge zwischen Meer und Seen, auf der nur ein einziger Weg und der Strand entlangführten. Da wir erschöpft waren, beschlossen wir etwas abseits des Weges an einer einsamen Stelle am Rande des Strandes zu nächtigen. Der Platz war wunderschön und wie irgendjemand von uns noch feststellte gab es auch „gar keine Mücken hier“. Man konnte toll im Meer schwimmen und über die Wellenbrecher bis weit ins tiefe Wasser hinaus gehen. Wir kochten, gingen Schwimmen, telefonierten, warfen die Frisbee und hatten insgesamt einen super Abend.

Unser Strand - fast ohne Mücken!

Doch als wir uns gerade in tiefster Sicherheit wiegten, begann es: Innerhalb von 15 Minuten verwandelte sich der friedliche Ort in ein Schlachtfeld… und wir waren die Bauernopfer. Nachdem wir zwei Stunden lang keine Mücke erblickt hatten, waren plötzlich alle Mücken der Welt da. Tatsächlich kamen so schnell so viele der Untiere, dass wir die Hälfte unserer Sachen liegen lassen mussten. Telefonate wurden plötzlich beendet und Geschirr ungespühlt liegen gelassen. Alles musste im Laufschritt erledigt werden, um die feindlichen Landemanöver möglichst zu erschweren. Weder Autan und Antibrumm, noch lange Kleidung konnten hier mehr helfen, da jeder ungeschützte Quadratzentimeter sofort von zehn Blutsaugern besetzt war. Die schiere Masse an Flugtieren führte dazu, dass jede Schwachstelle unserer Verteidigung genutzt wurde. Sogar zwischen den Haaren und auf die Lippen stachen die Monster. Also blieb als Rettung nur noch unser Zelt, welches glücklicherweise bereits aufgebaut war. Beim Betreten des hermetisch abgeriegelten Bereichs wurden höchste Sicherheitsstandards eingehalten und so konnte tatsächlich eine dünne und löchrige, aber sichere Barriere zwischen uns und den Blutsaugern gehalten werden. Nachdem sich geschätzte 10.000 Mücken zwischen unserem Innenzelt und Außenzelt gesammelt hatten, blieb kaum ein Zentimeter unbesetzt. Jeder Schlag gegen die Zeltwand schreckte die Tiere auf und hatte sofort ein dröhnend lautes Summen zur Folge. Selbst Stephen King hätte solchen Horror nicht erdenken können! Jede kleine Unachtsamkeit in Form einer Berührung des Innenzelts VON INNEN wurde mit einer saftigen Blutspende bestraft. Wir stellten uns einige überlebensentscheidende Frage: War wirklich kein einziges Loch im Innenzelt? Würden die Mücken am nächsten Morgen immer noch da sein? Und würde das Zelt unter der schieren Masse an Insekten nicht einfach zusammenbrechen? Nachdem wir uns mit einem Film ein wenig von unserer ausweglosen Situation abgelenkt hatten fielen wir alle irgendwann von unserer Angst völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf.

Nach der Schreckensnacht erwachten wir, immernoch umgeben von tausenden, wenn auch mittlerweile recht lethargischen, Mücken.

Jared, dessen Schlaf wohl kaum beeinträchtigt worden war, joggte beim ersten Wecker direkt motiviert aus dem Zelt. Bei mir brauchte es geschätzte sechs weitere Klingeltöne und Vincent lag auch noch im Zelt, als Jared und ich längst gefrühstückt, Kaffee getrunken, unsere Schlafsäcke und Isomatten gepackt und - in meinem Fall - das gesamte heute Journal gehört hatten. Als wir dann schließlich aufbrachen, knallte die Sonne bereits wieder mit voller Stärke auf uns und unsere Räder nieder. Gut für die PV-Anlage, schlecht für unsere Köpfe. Trotz Sonnenschein und spätem Aufstehen erreichten wir mittags einigermaßen rechtzeitig vor der maximalen Hitze nach etwa 40 Kilometern unseren Pausenplatz in Ustka. Dort fanden wir einen Spielplatz mit großem Pavillon, samt Bänken und Tischen. Sogar ein Wasserhahn war vorhanden, wodurch wir unser Trinkwasser nicht zum Nudeln kochen nutzen mussten. Mit getrockneten Tomaten, Feta, gerösteten Sonnenblumenkernen, frischen Tomaten, Paprika, Rucola und (je nach Gusto) Oliven gab es einen köstlichen Nudelsalat. Nachdem wir unsere Verdauungspause abgewartet hatten, arbeiteten wir noch ein wenig am Blog und warfen noch die eine oder andere Frisbee durch die Luft. Dank unseres Wasserfilters konnten wir noch alle Flaschen füllen und machten uns anschließend wieder auf den Weg. Die Strecke führte uns weiter entlang der Küste und durch den Ort Rowy. Dort wurden wir von einer Schranke und einem zugehörigen Kassenhäuschen mitsamt Kassierer überrascht. Uns wurde klar, dass der Eurovelo hier mitten durch den Naturschutzpark Narodowy führte. Um 21 Zloty erleichtert radelten wir also durch den naturbelassenen Wald vorbei an Kiefern, Birken und Farnen.

Etwa 20 km weiter hofften wir einen schönen Schlafplatz am Badesee zu finden. Der Weg dahin machte eine langsame aber stetige Entwicklung vom schönen Schotterweg zum anspruchsvollen Grasweg und schließlich zu einem langgezogenen, unbefahrbaren Sandkasten durch. Unsere Räder rollten nicht mehr orthogonal zur Nabe sondern rutschen parallel dazu, um dann im tieferen Sand komplett stecken zu bleiben. Hier war erstmals einige Minuten Schieben angesagt. Es sollte ein leichter Vorgeschmack auf die Misere des nächsten Tages werden...

Bräune oder Sand?

Was auf der Karte wie ein schöner Badesee aussah, entpuppte sich leider sich leider auch eher als Anglerparadies. Das Wasser war kaum 40 cm tief und trotzdem dunkel wie die Tiefsee. Unsere Enttäuschung darüber wich schnell, als wir mit einem jungen Belgier ins Gespräch kamen. Er fragte uns über unsere Tour aus und wir merkten schnell (auch an seinem Shirt mit Aufschrieb „cycle-the-world!“), dass er bei dem Thema wohl alles andere als unerfahren war. Auf unsere Nachfrage hin erzählte er, dass er mit zwei Freunden in vier Touren zu jeweils ca. drei Monaten einmal um die Welt geradelt sei. Dabei gingen die Routen von Amsterdam nach Togo, dann einmal quer durch Südamerika, bei der nächsten Tour von Singapur nach Peking und zum Schluss von Kirgisistan zurück nach Belgien. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, erklärte er uns, dass er unweit an einem Wanderparkplatz mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern übernachte. Leider nicht mit Fahrrad und Zelt, sondern im komfortablen Campingbus - ein erster Schritt, um seine Frau auf den Geschmack zu bringen. Durch ihn ermutigt, beschlossen wir auch auf dem Parkplatz unser Zelt aufzuschlagen, obwohl ein großes Schild mit durchgestrichenem Zelt davor aufgebaut war. Über dessen Bedeutung sind wir uns immernoch nicht final einig geworden…

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