Auf Opas Spuren Teil II.
von Moritz Spannenkrebs
am 22.07.2021
Start
Lidzbark Warminski
🇵🇱 Polen
Ziel
Barciany
🇵🇱 Polen
Strecke
85,41
km

Nachdem wir gestern in Pieniezno (alias Mehlsack) zwar jede Menge Hinweise auf Jareds Ahnen, allerdings keine auf die meinen gefunden hatten, ging es heute nach Lidzbark Warminski (ehemals Heilsberg). Vincents Mama hatte über ihre geheimen Quellen (wir tippen auf die polnische Mafia) eine Geburtsurkunde meines Opas ausgegraben, die dort ausgestellt wurde. Als Wohnort wurde das kleine Dorf Nowosady (ehemals Wosseden) in fünf Kilometern Entfernung angegeben.

In Lidzbark angekommen, fanden wir schnell einen schönen Platz am Fluss. Ähnlich eines Green Velo Stops, waren zwei schöne Holzpavillons mit Bänken und Tischen aufgebaut, sodass wir die perfekte Infrastruktur zum Kochen hatten. Während ich noch mit meinem Papa telefonierte, in der Hoffnung auf letzte Hinweise auf den alten Hof meines Uropas, lernte Vincent einen jungen Mann kennen. Er stellte sich als Mariusz vor und war hier in Lidzbark geboren und aufgewachsen. Eigentlich wohnte er mittlerweile in Warschau, doch wegen Corona war er im Homeoffice und konnte deshalb hier bei seinen Eltern wohnen. Als wir ihm erzählten, dass wir wohl nur diese Nacht in der Stadt sein würden und morgen direkt weiter fahren wollten, versuchte er uns schnell umzustimmen. Lidzbark sei viel zu schön und habe viel zu viel spannende polnisch-deutsche Geschichte zu bieten, um sich nicht damit zu beschäftigen. Wie sich herausstellte, war er in einem lokalen Geschichtsverein und kannte sich dementsprechend hervorragend aus. Da wir noch essen und ein paar Telefonate führen wollten, verabredeten wir uns auf 22:00. Der erste Stop sollte ein alter Friedhof sein... mitten in der Nacht! Den Weg dorthin legten wir mit unseren Rädern und er mit seinem beeindruckend schnellen Klapp-E-Bike zurück. Vor allem Berg auf zog er uns damit ordentlich davon!

Den Eingang zum Friedhof bildete ein schönes, altes Tor mit der Aufschrift „Vater in deine Hände empfehle ich meinen Geist!“ - laut Bibel Jesu letzte Worte. Der Friedhof war tatsächlich noch aus deutschen Zeiten und die Inschrift nicht ersetzt, sondern nur nachträglich um die polnische Übersetzung ergänzt worden. Unser privater Guide führte uns zum Grab des deutschen Flug-Pioniers „Ferdinand Schulz“. Dieser war im damaligen Ostpreußen geboren und stellte zwischen 1924 und 1928 allerhand aberwitzige Weltrekorde im Segelfliegen auf. Beispielsweise segelte er in seinem selbstgebauten Flugzeug „Moritz“ 12 Stunden am Stück und kam auf eine Höhe von 435 Metern. Leider stürzte der „Ikarus von Ostpreußen“ bei einem seiner wagemutigen Flügen auf dem Marktplatz von Stuhm ab.

Flugpionier Ferdinand Schulz. Quelle: wikipedia

Auf der Suche nach weiterer polnisch-deutscher Geschichte, zeigte uns Mariusz erst den, wie er es beschrieb, Lustgarten des damaligen Bischofs und später die zugehörige Bischofskirche. An allen Ecken und Enden fanden sich alte, oftmals partiell übermalte deutsche Schriftzüge, die an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg erinnerten. Den Höhepunkt der nächtlichen Tour bildete die Burg Heilsberg, welche mittlerweile als Museum dient. In dieser hatten nicht nur viele Bischöfe gewohnt, sondern auch Nikolaus Kopernikus sechs Jahre lang als Arzt gearbeitet. Dieser entwarf einige Jahre später das erste heliozentrische Weltbild, hatte also erklärt, dass sich die Erde um die Sonne drehe.

Die gesamte Festungsanlage der Burg blieb als eines von wenigen Gebäuden der Stadt vor den Bränden nach dem zweiten Weltkrieg verschont. Witzig war, dass der Burghof eigentlich nachts geschlossen war, aber Mariusz wusste durch welche Türe man ihn dennoch betreten konnte.

Im Burghof unterhielten wir uns eine ganze Weile und er erklärte uns, wie das polnisch-deutsche Zusammenleben nach dem zweiten Weltkrieg stattfand. Entgegen unserer Erwartung, hatten viele deutsche Familien die russische Übernahme überstanden und wurden nicht sofort vertrieben. Sie lebten demnach noch einige Jahre in Heilsberg. Doch die Wut auf Deutschland nach dem Krieg verwandelte sich bei einigen polnischen Einwohnern in Hass und somit wurden nach und nach auch die letzten deutschen Familien gezwungen, ihre Häuser aufzugeben und in das heutige deutsche Staatsgebiet zu fliehen.

Als letzten Punkt der Führung wurde uns ein alter evangelischer Friedhof gezeigt, welcher auch aus deutschen Zeiten stammte. Heute war nur mehr ein einziges Grab übrig, der Rest war dem Erdboden gleichgemacht worden. Mariusz fand es schrecklich, dass ein solcher Ort derart verkommen lassen wurde.

Kurz nach zwölf war die Führung zu Ende, doch Mariusz begleitete uns noch zu unserem Zeltplatz. Tatsächlich wäre es schade gewesen, die Stadt nicht kennenzulernen. Lidzbark Warminski war wirklich hübsch und hatte gescichtlich einiges zu bieten! Während wir schon unsere Zähne putzten, versprach er uns noch, uns eine deutsche Bierflasche aus den 1930ern zuzuschicken, sobald er wieder in Warschau sein würde. Wir sind gespannt…

Am nächsten Morgen fuhren wir in Richtung Nowosady. Zur Erinnerung: Hier hatten mein Uropa und meine Uroma einen Hof gehabt, wo auch mein Opa geboren war. Der Weg dahin machte uns schnell klar, dass es sich nicht gerade um eine Metropole handelte: Statt Teer, oder wenigstens Schotter gab es hier erneut nur Sandstraßen. Dies sollte aber gerade geändert werden und dementsprechend rauschten ständig LKWs an uns vorbei in Richtung Baustelle. Jedes mal wurden Unmengen Sand aufgewirbelt und man musste Mund und Augen schließen. Als wir gerade an einer besonders sandigen Passage waren und sich ein Lastwagen an uns vorbei zwängte verlor Vincents Vorderrad den Grip, grub sich tief in den Sand und Fahrrad samt Fahrer stürzten. Glücklicherweise waren noch einige Meter Platz zum LKW und Vincent tat sich auch nicht weh. Lediglich sein Rennlenker nahm eine recht eigenartige Form an, was aber mit Werkzeug und Fingerspitzengefühl wieder in Ordnung gebracht wurde.

Einige Sandkilometer weiter kamen wir in das kleine Dorf, bzw. eher in die lockere Ansammlung alter Höfe. Da wir keinen echten Anhaltspunkt hatten, wo genau der ehemalige Hof meiner Urgroßeltern sein könnte, bzw. ob dieser überhaupt noch existierte, fotografierte ich einfach wild einige alt aussehende Häuser und Scheunen. In der Mitte des Dorfes stand eine kleine Kapelle, welche Vincents fachkundiger Blick als hinreichend alt klassifzierte. Leider war sie verschlossen und das einzige Grab im zugehörigen Garten trug auch keinen uns bekannten Namen.

Im ganzen Dorf sahen wir keine Menschen. Einzig an einem sehr alt aussehenden Hof trafen wir den Besitzer desselben, was sich als beinahe astronomischer Zufall herausstellen sollte. Zu unserer Überraschung sprach er einige Worte englisch (nach eigener Aussage als einziger im Dorf) und war durchaus interessiert an meiner Geschichte. Ich zeigte ihm eine alte deutsche Karte der Umgebung, die ich online gefunden hatte und er studierte sie fleißig. Leider half das nicht groß weiter und auch die Namen „Spannenkrebs“ und „Tresch“ (Mädchenname meiner Urgroßmutter) sagten ihm nichts. Als wir schon am gehen waren, pfiff er uns zurück und wir traten etwas perplex heran. Zu unserem Erstaunen gab er uns zu verstehen, ihm zu folgen und erklärte mir, er habe ein Foto meines Vaters. Trotz der Gewissheit, dass mein Vater noch nie hier gewesen war, folgten wir brav und setzten uns zu seinem (sehr anhänglichen) Hund vors Haus. Unterdessen holte seine Frau ein altes Fotoalbum aus dem Haus und wir unterhielten uns. Ich erklärte ihm, dass mein Vater nie in Nowosady gewesen war, aber mein Großonkel mal nach dem alten Hof gesucht habe. Da ich diesen selbst nie kennengelernt hatte, konnte ich ihn auf den beiden Bildern die er uns zeigte auch nicht identifizieren. Er erklärte uns, der Besuch des Mannes (auf dem Foto ganz rechts) sei etwa zwanzig Jahre her und auch dieser habe nach dem alten Hof seiner Familie gesucht. Der Cowboy im Hintergrund des Bildes ist übrigens eine jüngere Version unseres Gastgebers. Ich konnte mir eine gewisse Ähnlichkeit zu meinem Opa durchaus einbilden und auch das Alter hätte bestens gepasst. Im Nachhinein konnte mein Vater die Identität nicht so ganz bestätigen, aber die Geschichte war einfach zu gut! Wir unterhielten uns noch ein wenig und fanden heraus, dass sein Vater ebenfalls im Krieg geflohen war. Allerdings von Ostpolen ins damalige Ostpreußen. Er selbst war hier im Hof aufgewachsen, was aber natürlich deutlich nach der Flucht meines Opas war. Dementsprechend wusste er auch nicht, welche Gebäude noch aus deutschen Zeiten stammen konnten. Dafür erzählte er uns eine Geschichte vom Hof seines Bruders (einige hundert Meter weiter), bei dem angeblich irgendwann Hitler zu Besuch gewesen sei. Naja, wir konnten dieser Erzählung in der vorgetragenen Sprache inhaltlich nicht so ganz folgen... Trotzdem glücklich über dieses zufällige Treffen bedankten wir uns vielfach und verabschiedeten uns von seiner Frau und ihm. Er witzelte noch, in zwanzig Jahren würde sicher wieder jemand aus meiner Familie vorbeikommen und wünschte uns bis dahin alles gute.

Da wir für den Tag bereits genug erlebt, aber noch viel zu wenig Strecke hinter uns gebracht hatten, ging es nun weiter. Wir folgten wieder dem Green Velo, welcher uns auf gut befahrbaren Feldwegen und Straßen ohne Verkehr nach Osten führte. Unsere einzige längere Pause machten wir an einem Fahrrad-Rastplatz. Dort waren wir fasziniert von einem Paar Storche, die an ihrem Nest werkelten. Allgemein war die Menge dieser schönen Vögel in den letzten Tagen extrem hoch gewesen. In jedem Dorf fanden sich mehrere Storchennester und auf jedem Feld waren die Tiere zu sehen. Eine kurze Recherche ergab, dass Polen auch als „Land der Weißstorche“ bezeichnet wird. Etwa 25% der Weltpopulation an Weiß- bzw. Klapperstorchen sei hier zu finden. Ich versuchte natürlich, die Vögel zu fotografieren und näherte mich dabei so gut es ging ohne sie zu verscheuchen - im Nachhinein muss ich zugeben, dass die Aktion wohl etwas bescheuert aussah.

Zum Abend hin waren wir lang, sehr lang auf der Suche nach einem guten Zeltplatz. Nach den Erfahrungen der letzten Tage waren wir wohl auch etwas verwöhnt und wollten unbedingt eine Bank mit Tisch, aber bitte ohne viele Mücken. Tja, wer so wählerisch ist, muss es mit den Oberschenkeln bezahlen und so rollten wir weit über die von uns angestrebten 75 km hinaus. Schließlich fanden wir allerdings eine standesgemäße Unterkunft im Park eines kleinen Dorfes, wo wir angenehm kochen konnten und schließlich einen gemütlichen Zeltplatz für die Nacht hatten.

Kommentare