Nachdem wir gestern in Pieniezno (alias Mehlsack) zwar jede Menge Hinweise auf Jareds Ahnen, allerdings keine auf die meinen gefunden hatten, ging es heute nach Lidzbark Warminski (ehemals Heilsberg). Vincents Mama hatte über ihre geheimen Quellen (wir tippen auf die polnische Mafia) eine Geburtsurkunde meines Opas ausgegraben, die dort ausgestellt wurde. Als Wohnort wurde das kleine Dorf Nowosady (ehemals Wosseden) in fünf Kilometern Entfernung angegeben.
In Lidzbark angekommen, fanden wir schnell einen schönen Platz am Fluss. Ähnlich eines Green Velo Stops, waren zwei schöne Holzpavillons mit Bänken und Tischen aufgebaut, sodass wir die perfekte Infrastruktur zum Kochen hatten. Während ich noch mit meinem Papa telefonierte, in der Hoffnung auf letzte Hinweise auf den alten Hof meines Uropas, lernte Vincent einen jungen Mann kennen. Er stellte sich als Mariusz vor und war hier in Lidzbark geboren und aufgewachsen. Eigentlich wohnte er mittlerweile in Warschau, doch wegen Corona war er im Homeoffice und konnte deshalb hier bei seinen Eltern wohnen. Als wir ihm erzählten, dass wir wohl nur diese Nacht in der Stadt sein würden und morgen direkt weiter fahren wollten, versuchte er uns schnell umzustimmen. Lidzbark sei viel zu schön und habe viel zu viel spannende polnisch-deutsche Geschichte zu bieten, um sich nicht damit zu beschäftigen. Wie sich herausstellte, war er in einem lokalen Geschichtsverein und kannte sich dementsprechend hervorragend aus. Da wir noch essen und ein paar Telefonate führen wollten, verabredeten wir uns auf 22:00. Der erste Stop sollte ein alter Friedhof sein... mitten in der Nacht! Den Weg dorthin legten wir mit unseren Rädern und er mit seinem beeindruckend schnellen Klapp-E-Bike zurück. Vor allem Berg auf zog er uns damit ordentlich davon!
Den Eingang zum Friedhof bildete ein schönes, altes Tor mit der Aufschrift „Vater in deine Hände empfehle ich meinen Geist!“ - laut Bibel Jesu letzte Worte. Der Friedhof war tatsächlich noch aus deutschen Zeiten und die Inschrift nicht ersetzt, sondern nur nachträglich um die polnische Übersetzung ergänzt worden. Unser privater Guide führte uns zum Grab des deutschen Flug-Pioniers „Ferdinand Schulz“. Dieser war im damaligen Ostpreußen geboren und stellte zwischen 1924 und 1928 allerhand aberwitzige Weltrekorde im Segelfliegen auf. Beispielsweise segelte er in seinem selbstgebauten Flugzeug „Moritz“ 12 Stunden am Stück und kam auf eine Höhe von 435 Metern. Leider stürzte der „Ikarus von Ostpreußen“ bei einem seiner wagemutigen Flügen auf dem Marktplatz von Stuhm ab.
Auf der Suche nach weiterer polnisch-deutscher Geschichte, zeigte uns Mariusz erst den, wie er es beschrieb, Lustgarten des damaligen Bischofs und später die zugehörige Bischofskirche. An allen Ecken und Enden fanden sich alte, oftmals partiell übermalte deutsche Schriftzüge, die an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg erinnerten. Den Höhepunkt der nächtlichen Tour bildete die Burg Heilsberg, welche mittlerweile als Museum dient. In dieser hatten nicht nur viele Bischöfe gewohnt, sondern auch Nikolaus Kopernikus sechs Jahre lang als Arzt gearbeitet. Dieser entwarf einige Jahre später das erste heliozentrische Weltbild, hatte also erklärt, dass sich die Erde um die Sonne drehe.
Die gesamte Festungsanlage der Burg blieb als eines von wenigen Gebäuden der Stadt vor den Bränden nach dem zweiten Weltkrieg verschont. Witzig war, dass der Burghof eigentlich nachts geschlossen war, aber Mariusz wusste durch welche Türe man ihn dennoch betreten konnte.
Im Burghof unterhielten wir uns eine ganze Weile und er erklärte uns, wie das polnisch-deutsche Zusammenleben nach dem zweiten Weltkrieg stattfand. Entgegen unserer Erwartung, hatten viele deutsche Familien die russische Übernahme überstanden und wurden nicht sofort vertrieben. Sie lebten demnach noch einige Jahre in Heilsberg. Doch die Wut auf Deutschland nach dem Krieg verwandelte sich bei einigen polnischen Einwohnern in Hass und somit wurden nach und nach auch die letzten deutschen Familien gezwungen, ihre Häuser aufzugeben und in das heutige deutsche Staatsgebiet zu fliehen.
Als letzten Punkt der Führung wurde uns ein alter evangelischer Friedhof gezeigt, welcher auch aus deutschen Zeiten stammte. Heute war nur mehr ein einziges Grab übrig, der Rest war dem Erdboden gleichgemacht worden. Mariusz fand es schrecklich, dass ein solcher Ort derart verkommen lassen wurde.
Kurz nach zwölf war die Führung zu Ende, doch Mariusz begleitete uns noch zu unserem Zeltplatz. Tatsächlich wäre es schade gewesen, die Stadt nicht kennenzulernen. Lidzbark Warminski war wirklich hübsch und hatte gescichtlich einiges zu bieten! Während wir schon unsere Zähne putzten, versprach er uns noch, uns eine deutsche Bierflasche aus den 1930ern zuzuschicken, sobald er wieder in Warschau sein würde. Wir sind gespannt…
Am nächsten Morgen fuhren wir in Richtung Nowosady. Zur Erinnerung: Hier hatten mein Uropa und meine Uroma einen Hof gehabt, wo auch mein Opa geboren war. Der Weg dahin machte uns schnell klar, dass es sich nicht gerade um eine Metropole handelte: Statt Teer, oder wenigstens Schotter gab es hier erneut nur Sandstraßen. Dies sollte aber gerade geändert werden und dementsprechend rauschten ständig LKWs an uns vorbei in Richtung Baustelle. Jedes mal wurden Unmengen Sand aufgewirbelt und man musste Mund und Augen schließen. Als wir gerade an einer besonders sandigen Passage waren und sich ein Lastwagen an uns vorbei zwängte verlor Vincents Vorderrad den Grip, grub sich tief in den Sand und Fahrrad samt Fahrer stürzten. Glücklicherweise waren noch einige Meter Platz zum LKW und Vincent tat sich auch nicht weh. Lediglich sein Rennlenker nahm eine recht eigenartige Form an, was aber mit Werkzeug und Fingerspitzengefühl wieder in Ordnung gebracht wurde.
Einige Sandkilometer weiter kamen wir in das kleine Dorf, bzw. eher in die lockere Ansammlung alter Höfe. Da wir keinen echten Anhaltspunkt hatten, wo genau der ehemalige Hof meiner Urgroßeltern sein könnte, bzw. ob dieser überhaupt noch existierte, fotografierte ich einfach wild einige alt aussehende Häuser und Scheunen. In der Mitte des Dorfes stand eine kleine Kapelle, welche Vincents fachkundiger Blick als hinreichend alt klassifzierte. Leider war sie verschlossen und das einzige Grab im zugehörigen Garten trug auch keinen uns bekannten Namen.
Im ganzen Dorf sahen wir keine Menschen. Einzig an einem sehr alt aussehenden Hof trafen wir den Besitzer desselben, was sich als beinahe astronomischer Zufall herausstellen sollte. Zu unserer Überraschung sprach er einige Worte englisch (nach eigener Aussage als einziger im Dorf) und war durchaus interessiert an meiner Geschichte. Ich zeigte ihm eine alte deutsche Karte der Umgebung, die ich online gefunden hatte und er studierte sie fleißig. Leider half das nicht groß weiter und auch die Namen „Spannenkrebs“ und „Tresch“ (Mädchenname meiner Urgroßmutter) sagten ihm nichts. Als wir schon am gehen waren, pfiff er uns zurück und wir traten etwas perplex heran. Zu unserem Erstaunen gab er uns zu verstehen, ihm zu folgen und erklärte mir, er habe ein Foto meines Vaters. Trotz der Gewissheit, dass mein Vater noch nie hier gewesen war, folgten wir brav und setzten uns zu seinem (sehr anhänglichen) Hund vors Haus. Unterdessen holte seine Frau ein altes Fotoalbum aus dem Haus und wir unterhielten uns. Ich erklärte ihm, dass mein Vater nie in Nowosady gewesen war, aber mein Großonkel mal nach dem alten Hof gesucht habe. Da ich diesen selbst nie kennengelernt hatte, konnte ich ihn auf den beiden Bildern die er uns zeigte auch nicht identifizieren. Er erklärte uns, der Besuch des Mannes (auf dem Foto ganz rechts) sei etwa zwanzig Jahre her und auch dieser habe nach dem alten Hof seiner Familie gesucht. Der Cowboy im Hintergrund des Bildes ist übrigens eine jüngere Version unseres Gastgebers. Ich konnte mir eine gewisse Ähnlichkeit zu meinem Opa durchaus einbilden und auch das Alter hätte bestens gepasst. Im Nachhinein konnte mein Vater die Identität nicht so ganz bestätigen, aber die Geschichte war einfach zu gut! Wir unterhielten uns noch ein wenig und fanden heraus, dass sein Vater ebenfalls im Krieg geflohen war. Allerdings von Ostpolen ins damalige Ostpreußen. Er selbst war hier im Hof aufgewachsen, was aber natürlich deutlich nach der Flucht meines Opas war. Dementsprechend wusste er auch nicht, welche Gebäude noch aus deutschen Zeiten stammen konnten. Dafür erzählte er uns eine Geschichte vom Hof seines Bruders (einige hundert Meter weiter), bei dem angeblich irgendwann Hitler zu Besuch gewesen sei. Naja, wir konnten dieser Erzählung in der vorgetragenen Sprache inhaltlich nicht so ganz folgen... Trotzdem glücklich über dieses zufällige Treffen bedankten wir uns vielfach und verabschiedeten uns von seiner Frau und ihm. Er witzelte noch, in zwanzig Jahren würde sicher wieder jemand aus meiner Familie vorbeikommen und wünschte uns bis dahin alles gute.
Da wir für den Tag bereits genug erlebt, aber noch viel zu wenig Strecke hinter uns gebracht hatten, ging es nun weiter. Wir folgten wieder dem Green Velo, welcher uns auf gut befahrbaren Feldwegen und Straßen ohne Verkehr nach Osten führte. Unsere einzige längere Pause machten wir an einem Fahrrad-Rastplatz. Dort waren wir fasziniert von einem Paar Storche, die an ihrem Nest werkelten. Allgemein war die Menge dieser schönen Vögel in den letzten Tagen extrem hoch gewesen. In jedem Dorf fanden sich mehrere Storchennester und auf jedem Feld waren die Tiere zu sehen. Eine kurze Recherche ergab, dass Polen auch als „Land der Weißstorche“ bezeichnet wird. Etwa 25% der Weltpopulation an Weiß- bzw. Klapperstorchen sei hier zu finden. Ich versuchte natürlich, die Vögel zu fotografieren und näherte mich dabei so gut es ging ohne sie zu verscheuchen - im Nachhinein muss ich zugeben, dass die Aktion wohl etwas bescheuert aussah.
Zum Abend hin waren wir lang, sehr lang auf der Suche nach einem guten Zeltplatz. Nach den Erfahrungen der letzten Tage waren wir wohl auch etwas verwöhnt und wollten unbedingt eine Bank mit Tisch, aber bitte ohne viele Mücken. Tja, wer so wählerisch ist, muss es mit den Oberschenkeln bezahlen und so rollten wir weit über die von uns angestrebten 75 km hinaus. Schließlich fanden wir allerdings eine standesgemäße Unterkunft im Park eines kleinen Dorfes, wo wir angenehm kochen konnten und schließlich einen gemütlichen Zeltplatz für die Nacht hatten.
Heute stand eine für mich ganz besondere Etappe bevor, wir erreichten Pienieszno, oder wie es zu preußischen Zeiten hieß: Mehlsack. Dies ist der Geburtsort meines Großvaters Gerhard Wichert. Es lag tatsächlich erst etwa 10 Tage zurück, als wir zwischen Berlin und Anklam ein wenig über die polnische Route nachdachten und Vincent mich dabei fragte, wo denn nochmal mein Opa herkäme. Schließlich war es dort bereits ersichtlich, dass wir Kaliningrad umfahren müssen und daher auch noch andere Ziele in Polen ansteuern könnten. Als ich Mehlsack antwortete, war Moritz ganz baff, denn seine Großeltern kommen auch von dieser Gegend, was ein Zufall! Während wir also weiterradelten ließen wir noch einmal zuhause Informationen zusammensammeln und übergaben sie Jolla (Vincents Mutter). Dank ihrer polnischen Muttersprache und Engagement konnte sie uns einen Kontakt im Standesamt in Mehlsack herstellen. Dort gibt es tatsächlich noch wenige Bücher mit Geburtseinträgen aus dem Zeitraum 1920 - 1938.
Wir kontaktierten dann Frau Boncal und vereinbarten, dass wir um 13 Uhr vorbeikommen würden. Sie spricht zu unserem Glück sogar wirklich gutes Deutsch, sie hatte ein paar Jahre in Aachen gelebt und studiert. Wir ließen den Vormittag gemütlich angehen und genossen den sehr wild belassenen Campingplatz. Wir waren nur noch 20km von Mehlsack entfernt und so ließ ich die Gedanken etwas schweifen… ob wohl Uroma Hedwig und Uropa Andreas auch Ausflüge hierher gemacht haben? Das werde ich zwar leider nicht mehr herausfinden, aber vielleicht finden wir ja noch andere Informationen. Zuerst zur Übersicht hier meine Situation und die Charaktere, um die es geht:
- Uropa Andreas Wichert, geboren 1920, verstorben 1942 im Krieg (1. Bild)
- Uroma Hedwig Reiß, geboren 1920 in Peterswalde nahe Mehlsack (2. Bild links)
- Hatte noch viele weitere Geschwister, unter anderm einen Paul, eine Agathe und Anna… weiteres ist nicht bekannt, außer dass es eher viele sind.
Die beiden hatten dann 3 Kinder
- Mein Opa Gerhard Wichert, geboren 1941 in Mehlsack, verstorben 2011 in Waldmössingen (3. Bild ganz rechts)
- Bruder meines Opas Bernhard Reiß, geboren 1936 in Mehlsack, verstorben in Waldmössingen
- Opas Schwester Helga,, 1942 geboren aber früh verstorben
Meine Hoffnung war in erster Hinsicht Wichert oder Reiß überhaupt zu finden und wenn möglich dies auch noch zu meinem Stammbaum verknüpfen. Wir freuten uns aber hauptsächlich überhaupt mal in solche Akten einsehen zu können. Und so wurden wir dann von Frau Boncal wie vereinbart empfangen und sie gab uns 9 Bücher heraus, die noch in Mehlsack verblieben sind. Sie sagte, der Rest sei entweder im Krieg verbrannt worden oder befindet sich auch zum Teil in einer zentralen Aktensammlung. Wir bekamen zuerst das Buch der Geburteneinträge von 1920. Das Alter war diesem Stück gut anzusehen, aber die Schrift war meist sehr gut erhalten, wenn auch sauschwer zu entziffern. Diese Schriftart ist uns leider nicht allzu geläufig und so hatten wir gut zu kämpfen, die Namen, Berufe und Daten ausfindig zu machen. Wir mussten aber garnicht lange suchen da kam schon der erste Wichert.
Und zwar war wohl zu dieser Zeit ein Wichert im Rathaus tätig, der öfter die Einträge übernahm, aber ständig unterzeichnete mit: ‚In Vertretung: Wichert‘. Die Schrift war ähnlich wie bei mir sehr lausig, aber sonstige genetischen Übereinstimmungen ließen sich hier nicht weiter ausfindig machen. Es dauerte ebenfalls nicht lange, da kamen auch die ersten Wicherts und Reiß‘ auf die Welt. Da es sich um das Jahr 1920 handelte, konnte maximal Hedwig infrage kommen, jedoch war sie wie bereits erwähnt im Kreis Peterswalde auf die Welt gekommen. Sie hatte jedoch viele Geschwister. Aufmerksam wurde ich dann bei folgender Familie. Paul Reiß und Rosa Reiß hatten in den Jahren 1922, 1924, 1926 die Kinder Elfriede, Maria und Erna auf die Welt gebracht. Ob sie verwandt mit Hedwig sind, konnte ich leider bisher nicht klären.
Ein weiterer trauriger Aspekt der Akten waren auch die häufig vermerkten Todesdaten der gefallen Soldaten, die in die Geburtsurkunde mit einem Hakenkreuzstempel versehen eingetragen waren. Dies war vor allem im Buch von 1920 und 1922 zu sehen, diese Mönner wurden also meist nicht älter als 22; eine schlimme Vorstellung. Nachdem wir die Öffnungszeit maximal ausgereizt haben und alle Bücher durchgeschaut hatten verabschiedeten wir uns wieder von Frau Boncal und gingen auf Empfehlung in eine nahegelegene Pizzeria, wo wir mit zu viel Hunger im Bauch uns zu 2 übergroßen Pizzen (50cm) und einer normalen Pizza (30cm) hinreißen ließen. Die Bedienung nahm die Bestellung zwar mit staunenden Augen entgegen, jedoch blieb tatsächlich von den Pizzen nichts übrig. Wir waren dennoch maßlos überfressen. Wir quälten uns dann noch einige Kilometer weiter Richtung Lidzbark Warminski (ehemals Heilsberg), wo wir weitere Spuren suchen wollen… und zwar von Moritz (eigentlich Franz) Spannenkrebs.