Riga
von Vincent Kliem
am 31.07.2021
Start
Baldone
🇱🇻 Lettland
Ziel
Riga
🇱🇻 Lettland
Strecke
34,85
km

Tatsächlich waren es heute morgen nur noch 30km bis nach Riga. Man möchte vielleicht meinen, dass eine Hauptstadt auch eine gutes Fahrradnerz im Umkreis haben sollte, nicht so Riga. Um von der großen Bundesstraße runterzukommen, bogen wir irgendwann auf einen Pfad entlang der Düna. Nachdem wir uns durch dichte Wälder und kleine Gartensiedlungen ohne feste Straßen gekämpft hatten, kamen wir endlich - wie aus dem nichts - auf einen perfekt ausgebauten Radweg. Uns fiel in der Ferne sofort der gigantische Fernsehturm von Riga auf. Tatsächlich recherchierten wir, dass dieser das höchste Bauwerk der EU sei. Im Vergleich dazu wirkten die Kirchtürme der Stadt winzig. Wir kämpften noch ordentlich gegen den Wind an, bis wir in die Stadt kamen. Auf dem Weg zu unserem Hotel, das wir am Vortag gebucht hatten, fielen uns schon die vielen schönen Stadthäuser auf. Auch unser Hotel erzählte von Außen noch vom Glanz früherer Tage, von Innen eher vom Renovierungsstau. Aber wir konnten uns nicht beklagen: Lage und Preis waren top.

Crazy Cider: zwei zum Preis von einem

Moritz und ich zogen, nachdem wir im Bad unseren Renovierungsstau abgebaut hatten, in die Stadt. Mein alter Schulfreund Lukas, der einige Jahre in Riga studiert hatte, gab uns ein paar Tipps für die Innenstadt und so schlenderten wir los. Nachdem wir uns grob orientiert hatten, fanden wir eine total geniale Ciderbar und gönnten uns im Innenhof Cider und einen sehr leckeren Humusteller.

Da es inzwischen schon Nachmittag war, war die Auswahl an Museen, die noch lohnenswert lange offen hatten, klein. Wie entschlossen uns schließlich das Okkupationsmuseum zu besichtigen, das sich der Zeit der Besetzung Lettlands widmet. Wie viele Museen in Riga kostete es keinen Eintritt.

Hier ein kurzer Abriss der Geschichte Lettlands:

Nach dem ersten Weltkrieg erklärte Lettland erstmalig seine Unabhängigkeit. Der multikulturelle Staat war wohl für seine Zeit relativ tolerant gegenüber denen im Land lebenden Minderheiten und so gab es beispielsweise in Riga auch ein deutsches Gymnasium, auf das unter anderem auch Heinz Erhardt ging. Die Unabhängigkeit endete 1939 mit dem Hitler-Stalin-Packt. Die Rote Armee marschierte in Lettland ein und es folgte eine russische Schreckensherrschaft, bei der vor allem ein Großteil der kulturellen und wissenschaftlichen Elite Lettlands in Arbeitslager verschleppt wurde, was wenige überlebten. Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass der Überfall auf die Sowjetunion von einigen Teilen der Bevölkerung als „Befreiung“ gesehen wurde. Doch es folgte die nächste Schreckensherrschaft. In Riga betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung etwa 10%. Am Holocaust in Lettland machten sich auch viele Letten mitschuldig. Es folgte wieder die Rückeroberung durch die Rote Armee und schließlich wurde Lettland - wie das gesamte Baltikum - Teil der Sowjetunion. Es folgte eine weitere Deportationswelle im März 1949, wobei fast 100.000 Menschen aus dem Baltikum in Richtung Sibirien verschleppt wurden.

Ermutigt durch Solidarność und die Streiks in Polen (vor allem Danzig), kam es auch im Baltikum vermehrt zu Gedenkveranstaltungen zu den Deportationen. Im Museum war ein Bild von einer solchen Veranstaltung ausgestellt, auf dem (vermutlich) ein KGB-Agent am Rand zu sehen ist, der im Moment des Fotos dem Fotographen zuflüstert, dass ihm das noch Leid tun werde. Der Höhepunkt der friedlichen Revolution im Baltikum war eine 600km lange Menschenkette zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, die die Hauptstätte Vilnius, Riga und Tallinn miteinander verband. Seit 1990 sind die baltischen Staaten unabhängig.

Besonders Eindrucksvoll war es in dem Museum die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts aus der Perspektive eines so vergleichsweise kleinen Volkes wie den Letten zu sehen. Deutschland war leider(!) ein „Bigplayer“ und zumindest zu sehr großem Teil verantwortlich/schuldig für das eigene und fremde Schicksal. Im Museum bekam man eher den Eindruck, dass Lettland ein einigermaßen chancenloser Spielball zwischen den Großmächten war. Wir konnten etwas besser nachvollziehen, dass wir im Land an jeder Ecke die Flagge Lettlands zu sehen bekamen. Man ist hier stolz auf die eigene Unabhängigkeit. Daneben sieht man aber auch viele EU-Flaggen. Die baltischen Staaten zeigen sich unglaublich Europa freundlich und sind seit 2004 Mitglieder der EU und inzwischen auch der Eurozone.

Mit diesen Eindrücken spazierten wir zurück zum Hotel, vorbei am ehemaligen KGB-Büro, inzwischen gottseidank ein Museum.

Impfkampagne (in der ganze Stadt plakatiert)

Prost!

Nach einer kurzen Stärkung im Hotel zogen wir zu dritt weiter durch Riga. Nach einigen runden Skat in einem kleinen Café verabschiedete sich Moritz für eine abendliches Telefonat mit seiner Liebsten. Jared und ich zogen weiter in die Innenstadt zu einer Bar, die mir Lukas empfohlen hatte. Etwas lauffaul und neugierig buchten wir uns erstmaligst einen E-Roller, die hier auch an jeder Ecke rumstehen und heizten zu zweit durch die Rigarer Nacht. Wir gönnten uns gerade ein Bier unter freiem Himmel als es anfing zu nieseln. Vielleicht hätte uns das Wetterleuchten schon beunruhigen sollen. Naja, wir zogen auf unserem seltsamen Gefährt weiter in Richtung der Ciderbar, wo es ein kleines Konzert im Innenhof geben sollte. Auf einmal brach Sintflutartig der Regen über uns herein. Wir konnten gerade noch den Roller abstellen und auf einen überschirmten Platz flüchten. Eigentlich eine sehr schnieke Location zu der wir uns mit unserem Radfahrerstyle nicht getraut hätten. Eine Band spielte und die adrett gekleideten Menschen lauschten artig mit einem Cocktail bewaffnet. Da aber jetzt alle Menschen im Umkreis von einigen hundert Metern dies als einzige Fluchtmöglichkeit sahen, verändert sich die Stimmung radikal, glücklicherweise spielte die Band weiter.

Völlig durchnässt fuhren wir mit dem Roller zurück ins Hotel.

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