#EV9
von Vincent Kliem
am 18.07.2021
Start
Zarnowiec
🇵🇱 Polen
Ziel
Gdańsk
🇵🇱 Polen
Strecke
80,88
km

Nachdem wir es uns in unserem Hostel La Guitarra gemütlich gemacht haben - unser Zimmer hieß übrigens Keith Richards, nicht die schlechteste Wahl - und die nötigen hygienischen Maßnahmen ergriffen hatten, um uns unter Menschen zu wagen, spazierten wir in Richtung Innenstadt. Die nette Frau an der Rezeption empfahl uns die „Piwna“, zu deutsch: Bierstraße - ideal für unsere Abendpläne. Wir spazierten vorbei am Hafen mit einigen schicken Yachten und einem dämlichen Pseudopiraten-Ausflugsschiff mit Fakesegeln, von dessen Sorte wir bisher in jedem polnischen Hafen eines gesehen haben.

In der Bierstraße fanden wir tatsächlich viele nette Bars und Kneipen. Unsere erste Wahl fiel auf einen kleinen aber feinen Innenhof und tatsächlich war die Bierauswahl sehr beachtlich. Etwas überfordert mit dieser bekamen wir auf die Frage, was denn das Getränk mit dem fancy Namen „Fortuna 11“ für ein Bier sei, die Antwort: „Fortuna is the Beer, 11 the price!“

Nach einigen Runden Skat meldeten sich beim Reizen auch immer deutlicher unsere Mägen zu Wort, und so gingen wir auf die Suche nach einem Abendessen. Wir fanden ein Restaurant, das sich vornehmlich auf Piroggen (im Prinzip die polnische Version der Maultasche - nur anders 😉) spezialisiert hatte. Wir gönnten uns gemeinsam den Teller mit 36 gemischten Füllungen. Soweit wir es rausschmecken konnten, waren in unterschiedlichen Füllungen dabei: Kraut, Pilze, Hackfleisch, Fisch und zum Nachtisch Quark und Beeren. Allesamt sehr, sehr lecker.

Nach dem wir unsere Bäuche vollgeschlagen hatten ließen wir den Abend in der sehr hippen Bar „Jozef K“ am Ende der Straße mit einigen Pale Ales ausklingen.

Für den nächsten morgen hatten wir uns einen Platz für die Free Walking Tour ergattert und spazierten mit unserem sehr unterhaltsamen Guide drei Stunden lang durch die Danziger Innenstadt. Wir lernten viel über die Danziger Geschichte geprägt von Handel und Reichtum (Hansestadt!) und den stetig wechselnden Bewohnern der Stadt. Hier lebten Polen, Deutsche, Holländer...

Besonders bewegend war der Abschluss der Tour. Diese endete am ehemaligen polnischen Postamt. Das mag unspektakulär klingen, ist aber tatsächlich ein wirklich geschichtsteächtiger Ort. Fesselnd erzählte uns der Guide warum:

Nach dem ersten Weltkrieg wurde im Vertrag von Versailles festgelegt, dass Danzig weder zu Deutschland noch zu Polen gehören solle, sondern den Status einer freien Stadt bekäme. Eine Bedingung war dabei die Entmilitarisierung des Gebietes. Zu dieser Zeit bestand die Bevölkerung Danzigs zu 90% aus Deutschen. Ein wichtiges Symbol und Service für die Polen war daher das polnische Postamt, das es parallel zur Danziger Post mit eigenen Briefkästen gab. Als die Rhetorik der Nazis immer grausamer wurde und ein Krieg unausweichlich schien, rüsteten heimlich die „Postbeamten“ auf. Ziel war es bei einem möglichen Überfall die wenigen Stunden durchzuhalten, bis Verstärkung durch die polnischen Armee kommen konnte. Mit dieser Vorahnung lagen sie leider richtig. Nach dem angeblichen und fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 01.09.1939, begann der Überfall auf Polen genau hier und damit auch der Beginn des zweiten Weltkriegs. Die Propagandapresse der Deutschen stand schon bereit, um die Einnahme des polnischen Postamtes symbolträchtig zu inszenieren, doch die mutigen Postbeamten wehrten sich in ihrer Verzweiflung so gut es ging. Sie wussten nicht, dass keine Verstärkung kommen konnte. Erst nachdem das Gebäude voll Benzin gepumpt und in Flammen gesetzt worden war, gaben die Verteidiger auf. Von Ihnen überlebte keiner den Krieg.

Das Postamt ist wieder aufgebaut und vor Ort erinnert eine Skulptur an diesen erbarmungslosen Kampf.

Fünf furchtbare Jahre später wurde Danzig von der Roten Armee „befreit“ - was bedeutete, dass es fast komplett zerstört wurde. Glücklicherweise, wurde vieles wieder aufgebaut und nur bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass wohl einiges nicht mehr ganz „original“ ist.

Nach der Stadtführung nutzten wir mal wieder die Vorzüge einer Großstadt für einige Erledigungen. Während Moritz eine neue Isomatte kaufen ging - seine hat inzwischen eine monströse Beule, suchten Jared und ich einen Friseur auf, da wir gegen das Gewucher auf unseren Köpfen dringend etwas unternehmen müssen. Wir fanden einen urigen kleinen Salon auf einer Galerie in einer Markthalle. Leider musste sich die Friseurin noch mit einem Deutschen und seiner Frau rumschlagen. Es bestand wohl ein Kommunikationsproblem darüber, wie kurz die Haare geschnitten werden sollten, wobei das Englisch der rasenden Ehefrau auch nicht das Prädikat Oxford verdient hätte. Die beiden führten sich dermaßen peinlich auf, dass wir uns wirklich fremdschämen mussten. Es war leider nicht das erste Mal, dass wir miterleben mussten, wie sich deutsche Touristen im Ausland danebenbenahmen. Als wir die beiden daran hindern wollten, den Friseurladen ohne zu zahlen zu verlassen, kassierten wir von der Furie auch noch ein „Arschloch“, was diese nette Begegnung noch abrundete.

Wir versuchten unser bestes, diesen bescheidenen Eindruck deutscher Höflichkeit wieder auszugleichen und setzten auf volle Charmeoffensive. Gottseidank konnte die Chefin des Ladens es auch ein wenig mit Humor nehmen und wir erzählten von unsere Reise. Sehr zufrieden über unseren neuen Haarschnitt trafen wir uns mit einem sehr zufriedenen Moritz mit neuer Isomatte im Gepäck und von unangenehmen Begegnungen mit Deutschen verschont. Mit einer Runde Nudel mit Pesto am Hafen ließen wir unseren Danzigbesuch ausklingen.