Nach den letzten zwei Tagen brummte uns gehörig der Schädel vom reichhaltigen kulturellen Input und vom Entziffern von hunderten alten Dokumenten. Deshalb sollen die nächsten Tage vornehmlich unsere Beine beansprucht werden. Im Hinblick auf unser Ziel Tallin hieß es wieder ordentlich Strecke zu machen.
Nach Müsli und Kaffee in unserer kleinen Hütten ging es ab auf die Räder und weiter am Green Velo entlang. Der Green Velo ist wirklich die ideale Möglichkeit um EU-Skeptikern zu zeigen, für welche genialen Zwecke EU-Gelder eingesetzt werden. Der Green Velo führt über Feldwege und asphaltierte Straßen durch Wälder und Wiesen. Wir fuhren durch immer weniger dicht besiedelte Gebiete und so konnten wir uns von den Reizen der letzten Tage gut erholen.
Mittags machten wir Pause an einem kleinen See. Nachdem wir die Fahrräder und uns geputzt hatten, entdeckten wir beim Baden einige schöne Fische im Wasser. Es machte sich bezahlt, dass ich meine 2,99€-Billo-Chlorbrille, die ich in Passau gekauft hatte, um ein paar Bahnen im Freibad zu schwimmen, seit fast 2000km mit mir rumschleppe. Bewaffnet mit Brille und GoPro versuchten wir uns mit den Flussbarschen anzufreunden.
Das Highlight des Green Velos sind die sogenannten MORs, wobei wir immer noch keine Idee haben, wofür diese Abkürzung steht. Uns war schon öfters auf den Radschildern diese Abkürzung aufgefallen. Wir brauchten aber zwei Tage, um die grandiosen (meist überdachten) Pausenhütten, mit den Schildern in Verbindung zu bringen. Ein Standard MOR ist ausgestattet mit einer überdachten Bank, Fahrradständern und einem (meist gut benutzbaren) Plumpsklo. Oft findet man auch einen kleinen Flecken grün für ein Zelt.
So freuten wir uns in den Abendstunden sehr, als ein Schild den nächsten MOR in Aussicht stellte. Wir hatten uns mit allen Zutaten für ein Risotto bewaffnet und wollten am MOR kochen und nächtigen. Leider machte uns die ansässige Dorfjugend, die die Vorzüge eines MOR wohl auch zu schätzen gelernt hatten, einen Strich durch die Rechnung. In der Hoffnung, dass in den späteren Stunden noch ein wenig Nachtruhe einkehren möge, fingen wir an zu kochen und kamen (mit Hilfe von Google Translate) mit den jungen Polen ins (Schreib-)gespräch.
Gut genährt machten wir uns (bereits im Dunkeln) auf die Suche nach einem ruhigen Schlafplatz. Und der Green Velo gab uns mehr als das:
Da es schon relativ spät war, hatten wir die abendliche Mückenflut (meist gegen 21 Uhr) schon hinter uns und konnten ohne Zelt unter dem gigantischen Dach schlafen. Jeder vernünftige Mensch würde sich wahrscheinlich über die netten Blumen, die Tischdecke oder die Feuerstelle freuen. Wir eskalierten aber völlig als wir die zwei Steckdosen in der Ecke entdeckten. Sofort wurde nach empfohlener Priorisierung der ständigen Ladekommission (Jared) geladen. Priorität 1: Powerbank und iPad, Priorität 2: Drohnenakkus. Am Morgen wurde die Priorisierung aufgehoben und es durften sogar Handys laden, die nicht dem Navigationszweck dienen.
Nach dem Frühstück ging es weiter in Richtung litauischer Grenze. Bevor wir die Grenze überquerten machten wir einen kleinen Abstecher zum Dreiländereck: Russland-Polen-Litauen. Nachdem wir die letzten Tage das Gebiet um Kaliningrad umfahren mussten, waren wir schon von der russischen Einreisepolitik latent genervt. Aber hier setzte Russland auf absurde Weise noch einen drauf:
Am Dreiländereck gibt es ein kleines Monument, um das man eigentlich herumlaufen kann und dabei durch drei Länder läuft. Das russische Viertel war allerdings eingezäunt. Hinter dem Monument zog sich ein mehrfach gesicherter und Kamera überwachter Grenzstreifen durch die Landschaft inklusive Foto-Verbotsschilder. Wir kamen mit einem netten Polen ins Gespräch, der uns erzählte, dass die Zäune am Monument erst vor einigen Jahren errichtet wurden. Es wurden wohl schon übereifrige Touristen, die sich auf die andere Seite wagten, aufgegriffen und zu einer Geldstrafe von etwa 500€ verdonnert. Wir ließen es uns trotzdem nicht nehmen einen Schritt über die Grenze zu wagen. Wie befremdlich… Naja, die EU (und der Schengenraum) sind doch wirklich was ganz feines.
Wir fuhren auf polnischer Seite noch ein Stückchen weiter. Bei einer Einkaufspause trafen wir eine ganzes Feld von Gravelbike-Fahrern, die augenscheinlich an einem Rennen teilnahmen. Aus dem Erschöpfungszustand der Fahrer und der Qualität der Ausrüstung folgerten wir, dass das Rennen nicht ganz ohne sein muss und tatsächlich recherchierten wir, dass es sich hierbei um ein Crosscountryrennen über 200km/500km handelt. Im Gespräch erfuhr Jared, dass einige der Fahrer garnicht schlafen, andere wiederum hatten auch ein Zelt dabei. Auf jeden Fall ist die knapp bemessene Karenzzeit von 72h einzuhalten. Wie wir da wohl mit unseren bepackten Eseln so performen würden?
Dass wir irgendwann in Litauen waren, merkten wir nur beim Blick auf die Karte und auf die Uhr (+1 Stunde).
Nach einigen Kilometern Feldweg kamen wir in den ersten kleineren Ort. Hier machte sich der Unterschied zu Polen doch deutlich, da das Dorf fast nur aus Holzhäusern bestand. Leider wurde hinter dem Ort die Straße katastrophal schlecht, so dass wir bald unser Nachtlager an einem Feldrand aufschlugen. Zum Abendessen gab es Fallafeln mit Reis und selbst gebackenem Brot. Mit vollen Bäuchen ging es ins Zelt für unsere erste Nacht in Litauen.
Am Morgen gönnten wir uns eine Runde Olympia auf dem Acker. Dank 4G und iPad konnten wir mitten in der Pampa voller Enthusiasmus die erste deutsche Medaille im 3-Meter-Synchronspringen verfolgen.
Nachdem wir gestern in Pieniezno (alias Mehlsack) zwar jede Menge Hinweise auf Jareds Ahnen, allerdings keine auf die meinen gefunden hatten, ging es heute nach Lidzbark Warminski (ehemals Heilsberg). Vincents Mama hatte über ihre geheimen Quellen (wir tippen auf die polnische Mafia) eine Geburtsurkunde meines Opas ausgegraben, die dort ausgestellt wurde. Als Wohnort wurde das kleine Dorf Nowosady (ehemals Wosseden) in fünf Kilometern Entfernung angegeben.
In Lidzbark angekommen, fanden wir schnell einen schönen Platz am Fluss. Ähnlich eines Green Velo Stops, waren zwei schöne Holzpavillons mit Bänken und Tischen aufgebaut, sodass wir die perfekte Infrastruktur zum Kochen hatten. Während ich noch mit meinem Papa telefonierte, in der Hoffnung auf letzte Hinweise auf den alten Hof meines Uropas, lernte Vincent einen jungen Mann kennen. Er stellte sich als Mariusz vor und war hier in Lidzbark geboren und aufgewachsen. Eigentlich wohnte er mittlerweile in Warschau, doch wegen Corona war er im Homeoffice und konnte deshalb hier bei seinen Eltern wohnen. Als wir ihm erzählten, dass wir wohl nur diese Nacht in der Stadt sein würden und morgen direkt weiter fahren wollten, versuchte er uns schnell umzustimmen. Lidzbark sei viel zu schön und habe viel zu viel spannende polnisch-deutsche Geschichte zu bieten, um sich nicht damit zu beschäftigen. Wie sich herausstellte, war er in einem lokalen Geschichtsverein und kannte sich dementsprechend hervorragend aus. Da wir noch essen und ein paar Telefonate führen wollten, verabredeten wir uns auf 22:00. Der erste Stop sollte ein alter Friedhof sein... mitten in der Nacht! Den Weg dorthin legten wir mit unseren Rädern und er mit seinem beeindruckend schnellen Klapp-E-Bike zurück. Vor allem Berg auf zog er uns damit ordentlich davon!
Den Eingang zum Friedhof bildete ein schönes, altes Tor mit der Aufschrift „Vater in deine Hände empfehle ich meinen Geist!“ - laut Bibel Jesu letzte Worte. Der Friedhof war tatsächlich noch aus deutschen Zeiten und die Inschrift nicht ersetzt, sondern nur nachträglich um die polnische Übersetzung ergänzt worden. Unser privater Guide führte uns zum Grab des deutschen Flug-Pioniers „Ferdinand Schulz“. Dieser war im damaligen Ostpreußen geboren und stellte zwischen 1924 und 1928 allerhand aberwitzige Weltrekorde im Segelfliegen auf. Beispielsweise segelte er in seinem selbstgebauten Flugzeug „Moritz“ 12 Stunden am Stück und kam auf eine Höhe von 435 Metern. Leider stürzte der „Ikarus von Ostpreußen“ bei einem seiner wagemutigen Flügen auf dem Marktplatz von Stuhm ab.
Auf der Suche nach weiterer polnisch-deutscher Geschichte, zeigte uns Mariusz erst den, wie er es beschrieb, Lustgarten des damaligen Bischofs und später die zugehörige Bischofskirche. An allen Ecken und Enden fanden sich alte, oftmals partiell übermalte deutsche Schriftzüge, die an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg erinnerten. Den Höhepunkt der nächtlichen Tour bildete die Burg Heilsberg, welche mittlerweile als Museum dient. In dieser hatten nicht nur viele Bischöfe gewohnt, sondern auch Nikolaus Kopernikus sechs Jahre lang als Arzt gearbeitet. Dieser entwarf einige Jahre später das erste heliozentrische Weltbild, hatte also erklärt, dass sich die Erde um die Sonne drehe.
Die gesamte Festungsanlage der Burg blieb als eines von wenigen Gebäuden der Stadt vor den Bränden nach dem zweiten Weltkrieg verschont. Witzig war, dass der Burghof eigentlich nachts geschlossen war, aber Mariusz wusste durch welche Türe man ihn dennoch betreten konnte.
Im Burghof unterhielten wir uns eine ganze Weile und er erklärte uns, wie das polnisch-deutsche Zusammenleben nach dem zweiten Weltkrieg stattfand. Entgegen unserer Erwartung, hatten viele deutsche Familien die russische Übernahme überstanden und wurden nicht sofort vertrieben. Sie lebten demnach noch einige Jahre in Heilsberg. Doch die Wut auf Deutschland nach dem Krieg verwandelte sich bei einigen polnischen Einwohnern in Hass und somit wurden nach und nach auch die letzten deutschen Familien gezwungen, ihre Häuser aufzugeben und in das heutige deutsche Staatsgebiet zu fliehen.
Als letzten Punkt der Führung wurde uns ein alter evangelischer Friedhof gezeigt, welcher auch aus deutschen Zeiten stammte. Heute war nur mehr ein einziges Grab übrig, der Rest war dem Erdboden gleichgemacht worden. Mariusz fand es schrecklich, dass ein solcher Ort derart verkommen lassen wurde.
Kurz nach zwölf war die Führung zu Ende, doch Mariusz begleitete uns noch zu unserem Zeltplatz. Tatsächlich wäre es schade gewesen, die Stadt nicht kennenzulernen. Lidzbark Warminski war wirklich hübsch und hatte gescichtlich einiges zu bieten! Während wir schon unsere Zähne putzten, versprach er uns noch, uns eine deutsche Bierflasche aus den 1930ern zuzuschicken, sobald er wieder in Warschau sein würde. Wir sind gespannt…
Am nächsten Morgen fuhren wir in Richtung Nowosady. Zur Erinnerung: Hier hatten mein Uropa und meine Uroma einen Hof gehabt, wo auch mein Opa geboren war. Der Weg dahin machte uns schnell klar, dass es sich nicht gerade um eine Metropole handelte: Statt Teer, oder wenigstens Schotter gab es hier erneut nur Sandstraßen. Dies sollte aber gerade geändert werden und dementsprechend rauschten ständig LKWs an uns vorbei in Richtung Baustelle. Jedes mal wurden Unmengen Sand aufgewirbelt und man musste Mund und Augen schließen. Als wir gerade an einer besonders sandigen Passage waren und sich ein Lastwagen an uns vorbei zwängte verlor Vincents Vorderrad den Grip, grub sich tief in den Sand und Fahrrad samt Fahrer stürzten. Glücklicherweise waren noch einige Meter Platz zum LKW und Vincent tat sich auch nicht weh. Lediglich sein Rennlenker nahm eine recht eigenartige Form an, was aber mit Werkzeug und Fingerspitzengefühl wieder in Ordnung gebracht wurde.
Einige Sandkilometer weiter kamen wir in das kleine Dorf, bzw. eher in die lockere Ansammlung alter Höfe. Da wir keinen echten Anhaltspunkt hatten, wo genau der ehemalige Hof meiner Urgroßeltern sein könnte, bzw. ob dieser überhaupt noch existierte, fotografierte ich einfach wild einige alt aussehende Häuser und Scheunen. In der Mitte des Dorfes stand eine kleine Kapelle, welche Vincents fachkundiger Blick als hinreichend alt klassifzierte. Leider war sie verschlossen und das einzige Grab im zugehörigen Garten trug auch keinen uns bekannten Namen.
Im ganzen Dorf sahen wir keine Menschen. Einzig an einem sehr alt aussehenden Hof trafen wir den Besitzer desselben, was sich als beinahe astronomischer Zufall herausstellen sollte. Zu unserer Überraschung sprach er einige Worte englisch (nach eigener Aussage als einziger im Dorf) und war durchaus interessiert an meiner Geschichte. Ich zeigte ihm eine alte deutsche Karte der Umgebung, die ich online gefunden hatte und er studierte sie fleißig. Leider half das nicht groß weiter und auch die Namen „Spannenkrebs“ und „Tresch“ (Mädchenname meiner Urgroßmutter) sagten ihm nichts. Als wir schon am gehen waren, pfiff er uns zurück und wir traten etwas perplex heran. Zu unserem Erstaunen gab er uns zu verstehen, ihm zu folgen und erklärte mir, er habe ein Foto meines Vaters. Trotz der Gewissheit, dass mein Vater noch nie hier gewesen war, folgten wir brav und setzten uns zu seinem (sehr anhänglichen) Hund vors Haus. Unterdessen holte seine Frau ein altes Fotoalbum aus dem Haus und wir unterhielten uns. Ich erklärte ihm, dass mein Vater nie in Nowosady gewesen war, aber mein Großonkel mal nach dem alten Hof gesucht habe. Da ich diesen selbst nie kennengelernt hatte, konnte ich ihn auf den beiden Bildern die er uns zeigte auch nicht identifizieren. Er erklärte uns, der Besuch des Mannes (auf dem Foto ganz rechts) sei etwa zwanzig Jahre her und auch dieser habe nach dem alten Hof seiner Familie gesucht. Der Cowboy im Hintergrund des Bildes ist übrigens eine jüngere Version unseres Gastgebers. Ich konnte mir eine gewisse Ähnlichkeit zu meinem Opa durchaus einbilden und auch das Alter hätte bestens gepasst. Im Nachhinein konnte mein Vater die Identität nicht so ganz bestätigen, aber die Geschichte war einfach zu gut! Wir unterhielten uns noch ein wenig und fanden heraus, dass sein Vater ebenfalls im Krieg geflohen war. Allerdings von Ostpolen ins damalige Ostpreußen. Er selbst war hier im Hof aufgewachsen, was aber natürlich deutlich nach der Flucht meines Opas war. Dementsprechend wusste er auch nicht, welche Gebäude noch aus deutschen Zeiten stammen konnten. Dafür erzählte er uns eine Geschichte vom Hof seines Bruders (einige hundert Meter weiter), bei dem angeblich irgendwann Hitler zu Besuch gewesen sei. Naja, wir konnten dieser Erzählung in der vorgetragenen Sprache inhaltlich nicht so ganz folgen... Trotzdem glücklich über dieses zufällige Treffen bedankten wir uns vielfach und verabschiedeten uns von seiner Frau und ihm. Er witzelte noch, in zwanzig Jahren würde sicher wieder jemand aus meiner Familie vorbeikommen und wünschte uns bis dahin alles gute.
Da wir für den Tag bereits genug erlebt, aber noch viel zu wenig Strecke hinter uns gebracht hatten, ging es nun weiter. Wir folgten wieder dem Green Velo, welcher uns auf gut befahrbaren Feldwegen und Straßen ohne Verkehr nach Osten führte. Unsere einzige längere Pause machten wir an einem Fahrrad-Rastplatz. Dort waren wir fasziniert von einem Paar Storche, die an ihrem Nest werkelten. Allgemein war die Menge dieser schönen Vögel in den letzten Tagen extrem hoch gewesen. In jedem Dorf fanden sich mehrere Storchennester und auf jedem Feld waren die Tiere zu sehen. Eine kurze Recherche ergab, dass Polen auch als „Land der Weißstorche“ bezeichnet wird. Etwa 25% der Weltpopulation an Weiß- bzw. Klapperstorchen sei hier zu finden. Ich versuchte natürlich, die Vögel zu fotografieren und näherte mich dabei so gut es ging ohne sie zu verscheuchen - im Nachhinein muss ich zugeben, dass die Aktion wohl etwas bescheuert aussah.
Zum Abend hin waren wir lang, sehr lang auf der Suche nach einem guten Zeltplatz. Nach den Erfahrungen der letzten Tage waren wir wohl auch etwas verwöhnt und wollten unbedingt eine Bank mit Tisch, aber bitte ohne viele Mücken. Tja, wer so wählerisch ist, muss es mit den Oberschenkeln bezahlen und so rollten wir weit über die von uns angestrebten 75 km hinaus. Schließlich fanden wir allerdings eine standesgemäße Unterkunft im Park eines kleinen Dorfes, wo wir angenehm kochen konnten und schließlich einen gemütlichen Zeltplatz für die Nacht hatten.
Heute stand eine für mich ganz besondere Etappe bevor, wir erreichten Pienieszno, oder wie es zu preußischen Zeiten hieß: Mehlsack. Dies ist der Geburtsort meines Großvaters Gerhard Wichert. Es lag tatsächlich erst etwa 10 Tage zurück, als wir zwischen Berlin und Anklam ein wenig über die polnische Route nachdachten und Vincent mich dabei fragte, wo denn nochmal mein Opa herkäme. Schließlich war es dort bereits ersichtlich, dass wir Kaliningrad umfahren müssen und daher auch noch andere Ziele in Polen ansteuern könnten. Als ich Mehlsack antwortete, war Moritz ganz baff, denn seine Großeltern kommen auch von dieser Gegend, was ein Zufall! Während wir also weiterradelten ließen wir noch einmal zuhause Informationen zusammensammeln und übergaben sie Jolla (Vincents Mutter). Dank ihrer polnischen Muttersprache und Engagement konnte sie uns einen Kontakt im Standesamt in Mehlsack herstellen. Dort gibt es tatsächlich noch wenige Bücher mit Geburtseinträgen aus dem Zeitraum 1920 - 1938.
Wir kontaktierten dann Frau Boncal und vereinbarten, dass wir um 13 Uhr vorbeikommen würden. Sie spricht zu unserem Glück sogar wirklich gutes Deutsch, sie hatte ein paar Jahre in Aachen gelebt und studiert. Wir ließen den Vormittag gemütlich angehen und genossen den sehr wild belassenen Campingplatz. Wir waren nur noch 20km von Mehlsack entfernt und so ließ ich die Gedanken etwas schweifen… ob wohl Uroma Hedwig und Uropa Andreas auch Ausflüge hierher gemacht haben? Das werde ich zwar leider nicht mehr herausfinden, aber vielleicht finden wir ja noch andere Informationen. Zuerst zur Übersicht hier meine Situation und die Charaktere, um die es geht:
- Uropa Andreas Wichert, geboren 1920, verstorben 1942 im Krieg (1. Bild)
- Uroma Hedwig Reiß, geboren 1920 in Peterswalde nahe Mehlsack (2. Bild links)
- Hatte noch viele weitere Geschwister, unter anderm einen Paul, eine Agathe und Anna… weiteres ist nicht bekannt, außer dass es eher viele sind.
Die beiden hatten dann 3 Kinder
- Mein Opa Gerhard Wichert, geboren 1941 in Mehlsack, verstorben 2011 in Waldmössingen (3. Bild ganz rechts)
- Bruder meines Opas Bernhard Reiß, geboren 1936 in Mehlsack, verstorben in Waldmössingen
- Opas Schwester Helga,, 1942 geboren aber früh verstorben
Meine Hoffnung war in erster Hinsicht Wichert oder Reiß überhaupt zu finden und wenn möglich dies auch noch zu meinem Stammbaum verknüpfen. Wir freuten uns aber hauptsächlich überhaupt mal in solche Akten einsehen zu können. Und so wurden wir dann von Frau Boncal wie vereinbart empfangen und sie gab uns 9 Bücher heraus, die noch in Mehlsack verblieben sind. Sie sagte, der Rest sei entweder im Krieg verbrannt worden oder befindet sich auch zum Teil in einer zentralen Aktensammlung. Wir bekamen zuerst das Buch der Geburteneinträge von 1920. Das Alter war diesem Stück gut anzusehen, aber die Schrift war meist sehr gut erhalten, wenn auch sauschwer zu entziffern. Diese Schriftart ist uns leider nicht allzu geläufig und so hatten wir gut zu kämpfen, die Namen, Berufe und Daten ausfindig zu machen. Wir mussten aber garnicht lange suchen da kam schon der erste Wichert.
Und zwar war wohl zu dieser Zeit ein Wichert im Rathaus tätig, der öfter die Einträge übernahm, aber ständig unterzeichnete mit: ‚In Vertretung: Wichert‘. Die Schrift war ähnlich wie bei mir sehr lausig, aber sonstige genetischen Übereinstimmungen ließen sich hier nicht weiter ausfindig machen. Es dauerte ebenfalls nicht lange, da kamen auch die ersten Wicherts und Reiß‘ auf die Welt. Da es sich um das Jahr 1920 handelte, konnte maximal Hedwig infrage kommen, jedoch war sie wie bereits erwähnt im Kreis Peterswalde auf die Welt gekommen. Sie hatte jedoch viele Geschwister. Aufmerksam wurde ich dann bei folgender Familie. Paul Reiß und Rosa Reiß hatten in den Jahren 1922, 1924, 1926 die Kinder Elfriede, Maria und Erna auf die Welt gebracht. Ob sie verwandt mit Hedwig sind, konnte ich leider bisher nicht klären.
Ein weiterer trauriger Aspekt der Akten waren auch die häufig vermerkten Todesdaten der gefallen Soldaten, die in die Geburtsurkunde mit einem Hakenkreuzstempel versehen eingetragen waren. Dies war vor allem im Buch von 1920 und 1922 zu sehen, diese Mönner wurden also meist nicht älter als 22; eine schlimme Vorstellung. Nachdem wir die Öffnungszeit maximal ausgereizt haben und alle Bücher durchgeschaut hatten verabschiedeten wir uns wieder von Frau Boncal und gingen auf Empfehlung in eine nahegelegene Pizzeria, wo wir mit zu viel Hunger im Bauch uns zu 2 übergroßen Pizzen (50cm) und einer normalen Pizza (30cm) hinreißen ließen. Die Bedienung nahm die Bestellung zwar mit staunenden Augen entgegen, jedoch blieb tatsächlich von den Pizzen nichts übrig. Wir waren dennoch maßlos überfressen. Wir quälten uns dann noch einige Kilometer weiter Richtung Lidzbark Warminski (ehemals Heilsberg), wo wir weitere Spuren suchen wollen… und zwar von Moritz (eigentlich Franz) Spannenkrebs.
Mit leicht verdaulichen Nudeln und schwer verdaulicher Geschichte im Bauch verließen wir Danzig (bzw. Gdańsk) wieder. Der nächste Fixpunkt auf unserer Tour sollte Pieniezno (ehemals Mehlsack) sein, wo Jared und ich Hinweise auf unsere Vorfahren suchen wollten. Bis dahin waren es ca 150 Kilometer, und wir wollten dementsprechend bis zum Abend des nächsten Tages ca 140 Kilometer zurücklegen, um dann vor Pieniezno zu übernachten. Da es bereits später Nachmittag war, machten wir keine längere Pause mehr und versuchten so möglichst viele Kilometer hinter uns zu bringen.
Vincent schien sich dabei ungewohnt schwer zu tun - vermutlich hatte ihm die durchgelegene Hostel-Matratze nicht bekommen!? Die Straße führte uns entlang des Flusses Martwa Wisla, an dessen Ende wir die Weichsel per Fähre überquerten.
Auf der anderen Seite bot sich uns ein spannendes Naturschauspiel. Wir konnten beobachten, wie sich in den einige Kilometer entfernten Gewitterwolken zwei Wirbel bildeten und langsam aber sicher Richtung Boden wuchsen. Die Wirbel wurden so zu ausgewachsenen Wasserhosen, die ein paar Minuten umeinander tänzelten, bevor sich beide langsam auflösten. Leider waren wir zu fasziniert, um rechtzeitig die Kamera zu zücken und konnten die Tornados nicht in voller Pracht aufnehmen.
Nach etwa 40 gefahrenen Kilometern - Vincent hing nur noch angestrengt im Windschatten - erspähte Jared einen möglichen Schlafplatz. Am Rande eines kleinen Flusses, von Gebüsch wenigstens halbwegs bedeckt, war ein etwa zehn Meter langer und drei Meter breiter, schwimmender Steg. Unsere Schnellprognose stimmte uns optimistisch, hier unser Zelt irgendwie drauf zu bekommen. Unter normalen Umständen hätte ich dafür plädiert weiterzufahren. Zeitgleich untersuchte allerdings Vincent sein Hinterrad, um festzustellen, ob sich wieder Speichen gelöst hatten. Tatsächlich wackelten einige Speichen nur noch lose herum. Allerdings nicht weil sie sich aus der Felge gelöst hatten, sondern weil sich die Felge AUFgelöst hatte. Bei acht Speichen hatte sich das Gewinde mitsamt einem Stück Felge herausgerissen. Dementsprechend hatte sich das Rad in ein ungefähr rundes Vieleck verwandelt. Eine Weiterfahrt war also erstmal ausgeschlossen und so arrangierten wir uns mit dem Steg. Immerhin war wohl mit Vincents Fitness noch alles in Ordnung... Nachdem wir gekocht hatten, wurde das Zelt auf dem Steg aufgebaut. Mit guten zehn Zentimetern Platz zwischen Zeltwand und Wasser auf beiden Seiten war das ganze kein Problem! Zumindest für mich, da ich ja in der Mitte schlafe.
Am nächsten Morgen hatte ich gerade Frühstück und Kaffee gekocht - Jared hatte sich schon zu mir gesellt, während Vincent noch von einer neuen Felge träumte - da kam eine Gruppe von drei Männern auf unseren Steg. Sie witzelten untereinander und hatten insgesamt eine geschäftige aber hervorragende Stimmung an den Tag gelegt. Bewaffnet mit Motorsensen und Laubgebläsen begannen sie sofort wild auf uns einzureden. Zwar war der Tonfall entspannt und fröhlich, aber wir begannen trotzdem etwas hektisch unser Zeug aus dem Weg zu räumen. Auch Vincent war plötzlich in der Vertikalen und verstaute bereits die Schlafsäcke. Die Männer winkten nur ab, bedeuteten uns sitzen zu bleiben und (so die Vermutung) wünschten uns einen guten Appetit.
Nachdem wir schließlich zusammengepackt hatten, machten wir uns auf den Weg. Natürlich musste Vincents Hintervieleck möglichst entlastet werden und so übernahm Jared die großen Packsäcke und den Wasserbeutel und ich Vincents beide Hintertaschen und die Gitarre.
Dank Entlastung rollte alles einigermaßen und wir erreichten recht schnell das etwa 30 km entfernte Elblag. Dort suchten wir einige Zeit nach dem angestrebten Fahrradladen. Da sich die Suche durch ein spannendes Backstein-Industriegebiet zog, wo es so ziemlich jedes Handwerk zu finden gab, hatten wir aber auch daran unsere Freude. Als wir die Radwerkstatt schließlich fanden, waren wir direkt guter Dinge. An der Wand hingen einige dutzend Laufräder und so fand sich auch schnell ein passendes für Vincents Drahtesel. Die beiden Mechaniker, beide etwa in unserem Alter, waren super hilfsbereit und kompetent. Einzig die Frau an der Kasse, möglicherweise die Geschäftsführerin, war nicht so begeistert, wenn wir ständig ihre Mechaniker beanspruchten.
Kurz nach uns traf eine junge deutsche Familie ein. Die Eltern waren mit ihren drei Söhnen (5, 3 und 1) einen Monat in Polen unterwegs. Dabei legte der älteste die gesamte Stecke selbst zurück, während seine kleineren Brüder mit Follow-Me bzw. Kindersitz vom Vater bewegt wurden. Wir waren wirklich beeindruckt wie entspannt und gelassen die Bedürfnisse der drei Kinder während der Fahrradreparatur bedient wurden. Ob wir wohl so entspannt wären, die Tour mit drei kleinen Kindern durchzuziehen? Die Räder der Eltern repräsentierten die Crème de la Crème der Fahrradschaltungen: Sie war mit einer Rohloff Nabenschaltung und er mit einer Pinion Getriebeschaltung unterwegs. Letztere ist optisch leicht mit dem Motor eines E-Bikes zu verwechseln, da sie direkt im Tretlager, also zwischen den Pedalen, angebracht ist und in Form einer kleinen Box im Rahmen steckt. Mit einem Preis von 1500 Euro allein für die Schaltung findet man die Pinion P1.18 auch nur in High-End Rädern.
Dementsprechend irritiert waren wir über die teils fehlende Fachkenntnis der beiden, die an der einen oder anderen Stelle auffiel. Während Vincent sein neues Hinterrad zusammengeschraubt bekam, wollte ich noch schnell (!!) meine Kette wechseln, da die alte bereits ordentlich steif war. Aufgrund von Verständigungsproblemen, wurde mir erst eine komplett falsche Kette verkauft, die dementsprechend hin und her wackelte und bei jeder Pedalumdrehung durchrutschte. Etwas genervt suchte ich mir dann die Kette selbst aus und montierte sie fröhlich mit meinem Kettennieter. Guter Dinge setzte ich mich für eine Proberunde auf den Sattel und RATSCH rutschte auch die neue Kette durch. Bereits etwas verzweifelt versicherte ich mich dreifach, ob es sich diesmal auch wirklich um die richtige Kette handelte. Der nächste Anhaltspunkt war die Kettenspannung, also wurden nochmal ein paar Kettenglieder entfernt, um die Feder des Kettenspanners stärker unter Zug zu setzen. Auch das brachte keine wesentliche Verbesserung und somit wuchs meine Frustration weiter an. Auch die Mittagssonne, welche auf unsere Köpfe knallte trug nicht gerade zur Entspannung bei. Vincent war in der Zwischenzeit einkaufen gegangen und er und Jared hatten bereits gegessen. Unsere Radlerkollegen hatten alle Reparaturen erledigt und die drei Jungs wurden längst ungeduldig. Nachdem die Ölschicht auf meinen Händen vom vielen rumwerkeln deckend war, beschloss ich doch noch einmal einen der beiden Mechaniker um Rat zu fragen. Der identifizierte das Problem schnell: einige Kettenglieder der neuen Kette waren steif. Leider stellte sich die Behebung des Problems als deutlich komplizierter heraus als die Diagnose. Gemeinsam werkelten er und ich eine weitere halbe Stunde und drei Kettenschlösser lang an der Kette herum. Die junge Familie war mittlerweile weitergezogen und Jared und Vincent hatten Reparaturzeug für die Solarplatte in einem nahegelegenen Baumarkt besorgt. Nach locker zwei Stunden lief die Kette wieder flüssig und mein Rad rollte wie neu. Vielleicht war es mit meiner eigenen Fachkenntnis auch nicht so weit her, wie ich mir eingebildet hatte...
Während unserer Reparaturgespräche empfahlen uns die beiden jungen Eltern den „Green Velo“, welcher ziemlich genau zu unserer Streckenplanung passte und außerdem eine tolle Infrastruktur mit sich bringe.
Gesagt, getan! Wir folgten den netten Schildern mit bunten Kettengliedern in Richtung Pieniezno. Tatsächlich waren etwa alle 15 Kilometer klasse Rastplätze mit Bänken und Tischen unter schönen Holzdächern gemeinsam mit Mülleimern und jeweils einer Toilette vorhanden. Die Ausschilderung war auch sehr gut und der Weg so gewählt, dass von Autos befahrene Straßen möglichst gemieden wurden. Für eine Familie war das perfekt, aber für uns waren Streckenführung und Belag an diesem Tag zu langsam, da wir bis Abend nahe an Pieniezno sein wollten.
Dementsprechend fuhren wir viel auf der Landstraße und schafften trotz langer Wartungspause gute 90 Kilometer. Für die nächsten Tage nahmen wir uns vor, dem ausgeschilderten Weg mehr zu folgen. Nach unserem Abendessen an einer Bushaltestelle, rollten wir an einen See, wo wir einen minimalistischen, sehr natürlichen Campingplatz fanden. Beim Betreten desselben kam uns direkt ein großer, bulliger Hund entgegen, der wild bellte und die Zähne fletschte. Glücklicherweise kam uns schnell sein Herrchen, der Platzwart, zur Hilfe und rettete uns aus der Situation. Für die Nacht mit dem Zelt verlangte er einen lächerlich geringen Betrag und erklärte uns sogar noch, welches Holz wir für ein Lagerfeuer nutzen konnten. Wir ließen den Abend also mit Schwimmen und Gitarre spielen am Lagerfeuer ausklingen und gingen anschließend vom Glück beseelt ins Zelt.