Nachdem wir eine sehr erholsame Nacht auf weichem Waldboden in instabilem Zelt verbracht hatten, frühstückten wir zuerst gemütlich und berieten uns dann über den weiteren Verlauf der Reise. Zuerst zum Zelt: am Abend vorher prüfte ich nochmal die bereits angebogenen stangensegmente und fand erschreckenderqeise etwa an jeder 2. Verbindungsstelle bereits kleine Risse. Im Moment des Aufbauens brach dann auch tatsächlich die obere Querstange. Wir hatten zum Glück noch eine Hülse, die wir für die Bruchstelle verwenden konnten, jedoch durfte jetzt nichts mehr passieren. Wir kontaktierten zwar nochmal Salewa aber es war schnell klar, dass wir in unter 4 Tagen keine Hilfe in Form eines Ersatzgestänge erwarten können. Wir beschlossen daher im Baumarkt Hilfe zu suchen. Weiter ging die Planungssession mit dem Verlauf der Reise. Zur Wahl stand
- Estlands Küstenlinie weiterfahren (600-700 km) mitsamt den 2 Hauptinseln und ab Tallinn mit dem Bus zurückreisen.
- Direkt nach Tallinn fahren (150 km) und weiter mit der Fähre nach Helsinki übersetzen. Von dort in 3 Tagen nach Turku radeln, wo wir die Fähre nach Stockholm nehmen könnten. Ab da könnten wir noch 4 Tage in Schweden nach Süden radeln.
Wir entschieden uns mit Einbezug der Rückreise Annehmlichkeiten und der Neugierde nach Finnland für Option 2 und buchten schon mal so einiges (Fähren und Busse), um schon mal Frühbucherrabatte zu sichern. Nach diesem überaus produktiven aber langem Vormittag radelten wir nordwärts erstmal in Richtung Baumarkt. Glücklicherweise wird in Estland sehr oft Englisch verstanden und auch gesprochen und so konnte ich dem Baumarktmitarbeiter recht schnell das Zeltproblem schildern. Ich zeigte ihm die Hilfshülse und er holte kurzerhand ein ähnlich dickes Alurohr und sägte es mir in 7 Stücke. Nun können wir uns also 7 weitere Stangenbrüche erlauben bis zum Reiseende ;-). Für die unkomplizierte Hilfe daher den verdienten Titel:
MVP des Tages: Baumarktmitarbeiter
Wir radelten anschließend weiter auf deutlich direkterer Route nach Tallinn als mal ursprünglich gedacht. Genau deshalb hatten wir jedoch noch eine lustige Begegnung. Wir waren bereits nach 21:00 Uhr noch auf den Straßen unterwegs auf der Suche nach einer schlafbaren Ecke, da kamen uns noch zwei sehr sportlich ausgestattete Gravelbikes mit ebenso sportlichen Fahrern über den Weg. Bei ihrem Überholmanöver plauderten wir noch kurz (den typischen Radreiser-Smalltalk). Während der anführende Italiener nach einem kurzen Gruß weiterradelte, blieb die deutschsprachige Radlerin noch kurz neben uns und erzählte, dass sie ebenfalls von Italien gestartet seien und zwar am Gardasee. Auf die Frage wieviele Kilometer sie am Tag so mache antwortete sie mit 300 und wir waren kurz sprachlos. Aus Ehrfurcht wollten wir sie daher nicht länger aufhalten aber wir waren doch sehr angefuchst, was es mit dieser krassen Ausdauerleistung auf sich hat. Wir legten uns bald danach ins nächstbeste Feld und begannen zu recherchieren. Schnell wurde ersichtlich, dass es sich hierbei um das Radrennen Northcape4000 handelt.
Dabei radeln dieses Jahr etwa 180 Teilnehmer die Strecke vom Gardasee ans Nordkap mit reiner Muskelkraft. Gestartet sind die Mitstreiter erst am 24. Juli (!!) und der erste war im Moment unserer Recherche bereits seit wenigen Minuten im Ziel.. Zeit: 10 Tage und 9 Stunden, absoluter Wahnsinn! Die Webseite zeigt alle Teilnehmer mit ihrer letzen übertragenen Position auf einer Karte an, daher konnten wir auch recht schnell unsere Begegnung identifizieren. Es handelte sich um die Extremsportlerin Sara Hallbauer, die übrigens einen sehr lesenswerten Blog schreibt. Dort geht es neben krassen Touren auch um die Basics von Bikepacking und ist daher sehr zu empfehlen für Interessierte an dieser Sportart bzw. an diesem Lebensstil, je nach Dauer ;-). Den Blog findet ihr hier.
Wir machten es uns also mal wieder zwischen Heuballen gemütlich und während wir das Abendessen in den Startlöchern hatten, schauten wir schon gespannt mit Blick auf die Straße, wann der nächste Nordkap Competitor vorbeiradeln würde. Ein Stück weit war es auch etwas seltsam die gläsernen Radfahrer so verfolgen zu können aber es hat uns auch sehr viel Freude bereitet so nahe an diesem Wettkampf zu sein. An diesem Abend fiel es uns auch dann wie Schuppen von den Augen, als wir uns erinnerten, dass wir an diesem Tag von der Seite zugerufen bekamen ob wir ans Nordkap fahren würden und wir dann ausweichend erklärten: Ne, also erst Tallin, dann Helsinki, dann….. aber in diesem Moment wussten wir noch nichts von diesem Rennen. Wir nahmen es im Nachhinein als Kompliment, dass man uns optisch so eine Extremleistung mit unseren 50kg Rädern zugetraut hätte.
Die Sonne kroch an diesem Abend zwar lange am Horizont, aber der kristallklare Himmel sorgte schnell für eine ordentliche Kälte. Vincent widmete sich noch der Sternenfotografie, während Moritz und ich uns schon einmal im Zelt einkuschelten. Es wurde alles ausgekramt, was die Wärmeabteilung zu bieten hatte: Von Skiunterwäsche bis zur Fließjacke. Am nächsten Morgen war ich dann wieder recht früh auf und genoss die ersten Sonnenstrahlen während ich Kaffee und Porridge richtete. Kurz später saßen wir dann vollständig vor dem Haferbreigemisch und schaufelten im Bottich während wir erneut auf das Nordkap Rennen schielten und die nächsten vorbeifahrenden Radler im Voraus identifizierten. Komplett unbemerkt schlich sich in diesen Minuten hinter uns ein ordentlicher Schauer heran, den wir garnicht auf dem Schirm hatten. In Windeseile wurde das Zelt eingepackt und alles wichtige verstaut. Das restliche Frühstück wurde dann in voller Regenmontur verspeist. Das wechselhafte Wetter in Estland hat uns schon zu so einigen Regenzeug An- und Auszieh-Pausen gezwungen. Schließlich ging es auch für uns wieder auf die Räder.
An diesem Tag führte uns die Strecke abseits von den Autobahnen in der Mitte des Landes Richtung Tallin und war insgesamt sehr schön zu fahren. Ein Highlight war dann erneut wieder ein top bewerteter Discgolfkurs, den wir uns nicht entgehen lassen wollten. Man muss dazu sagen, dass Estland ein absolut Discgolf verrücktes Land ist. Estland ist nur ein wenig größer als Baden Württemberg aber die Discgolfkursdichte ist um ein Vielfaches höher. Daher können wir hier auch etwas wählerischer sein als in unserer Heimat.
Abends steuerten wir wieder einen RMK Platz an, ein wirklich fantastisches Konzept für Reisende wie uns. Mithilfe einer App kann man geeignete Nächtigungsmöglichkeiten in freier Natur finden, absolut empfehlenswert. An unserem ausgesuchten Spot konnten wir dann bequem unser Zelt hinstellen und ein paar Bänke mit Tisch, sowie ein Zugang zum Fluss rundeten die Nachtstätte ab. Auch diese Nacht forderte wieder die gesamte Garderobe heraus….